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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
In einer eigentümlichen Situation der Schwäche und Stärke zugleich befindet sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, das ist nicht nur für „politisch Eingeweihte“ unübersehbar. Es geht um eine Situation, die man „paradoxal“ im eigentlichen Sinn nennen kann, weil sich zeigen lässt, dass Schwäche und Stärke dieselbe Ursache haben. Diese eine Ursache aber, deren Identifikation weder komplizierter Theorien bedarf, noch das Wagnis kühner Thesen fordert, könnte eine Signifikanz haben, welche weit über die deutsche Tagespolitik hinausgeht – weil sie einen neuen Blick auf den Status von „Politik“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts im europäischen und internationalen Kontext eröffnet.
Während des vergangenen Jahrzehnts ist nicht allein die Mitgliederzahl der SPD drastisch zurückgegangen; vor allem sind auf Bundes- und (ziemlich konsistent ) auch auf Landesebene ihre Wählerstimmen auf den Stand der unmittelbaren Nachkriegsjahre gesunken, auf den Stand vor dem „Godesberger Programm“ aus dem Jahr 1959, mit dem sich die SPD von einer Klassenpartei zur „Volkspartei“ umdefiniert hatte, von einer Partei des Proletariats zu einer Partei für alle Wählerschichten (tatsächlich nicht nur für den immer breiteren „Mittelstand“).
Doch der als Folge jener historischen Transformation erreichte Status ist mittlerweile wieder verlorengegangen: die SPD wird nicht mehr als gleichstarke politische Kraft neben der Christlich Demokratischen Union und mithin als echte Alternative der Macht wahrgenommen — und steht nun vor dem Dilemma, eine große Koalition eingehen zu müssen, um nicht Schuld am Scheitern einer Regierungsbildung zu tragen, obwohl das Mitregieren wahrscheinlich zur weiteren Erosion ihrer Attraktivität führen wird.
Das sind die vielfachen Schwächen dieser Partei, die nur gesteigert werden durch ihren Beschluss, den für über achtzig Millionen Deutsche relevanten Koalitionsbeitritt abhängig zu machen von einer Abstimmung unter weniger als einer halben Million Parteimitgliedern. Dennoch – und darin wiederum liegt die erstaunliche Stärke der „deutschen Sozialdemokratie“ (wie sich die SPD noch immer gerne nennt) — ist sie als eindeutiger Punktsieger aus den Koalitionsverhandlungen hervorgegangen. Gegen die vom eigenen Erfolg bedrohte Kanzlerin hat der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel Runde um Runde gewonnen — ohne allerdings den politischen Antagonisten und künftigen Koalitionspartnern viel Angst einzujagen.
Die für die Schwäche der SPD ebenso wie für ihre Stärke ausschlaggebende Ursache nun lässt sich am besten historisch fassen. 1959, am Beginn der bis heute herausragenden Zeit in ihrer langen Geschichte, wurde sie nicht nur von einer Klassen- zur Volkspartei, sondern distanzierte sich auch von der Ausrichtung am Sozialismus als Ideologie. An die Stelle eines kohärenten und oft überkonturierten Bildes von der idealen Gesellschaft der Zukunft, deren Überlegenheit und historisch notwendige Verwirklichung in der Tradition des Sozialismus „wissenschaftlich“ erwiesen werden sollte, trat das viel vagere Versprechen vom „allgemeinen Wohlstand“. Zugleich wurde die Bejahung des Wettbewerbs als Energiezentrum wirtschaftlichen Wachstums mit der Formel „so viel Wettbewerb wie möglich, soviel Planung wie nötig“ ganz offen aus dem Kapitalismus übernommen.
Während eine solche Konfiguration bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vor allem mit den skandinavischen Gesellschaften assoziiert wurde, gibt es aber heute kaum eine europäische Regierung, welche sich ihr gegenüber eine explizite Distanz leisten könnte. Aus der Außenperspektive zumindest und typologisch gesehen sind mittlerweile alle potentiellen Regierungsparteien der Europäischen Union sozialdemokratisch geworden, weil eben eine regierungsfähige Mehrheit allein für solche Politiker erreichbar scheint, welche sich auf die schwach konturierte Kombination von „allgemeinem Wohlstand“ und „wirtschaftlichem Wettbewerb“ einlassen.
Hier genau liegt der Grund für die Schwäche der SPD, welche – als der eine Teil eines Paradoxons aus Schwäche und Stärke – selbst intrinsisch paradoxal ist. Über einen Begriff von „Sozialdemokratie“ im Sinn der Godesberger Reformen und des „Modells Skandinavien“ können sich Parteien und ihre Politiker in Europa heute kaum noch profilieren, weil eben die Basisformel dieser politischen Position zur Voraussetzung für jeglichen politischen Erfolg geworden ist. Man riskiert nicht viel mit der These, dass ein Konsens dieses Inhalts heute von mehr als drei Vierteln der EU-Wähler getragen wird. Neben der Bejahung von allgemeinem Wohlstand als Grundwert und kontrolliertem Wettbewerb als seiner Triebfeder gehören dazu (erstens) die implizite Forderung nach einer extreme Armut ebenso wie extremen Reichtum ausschließenden wirtschaftlichen Umverteilung; zu deren Durchführung durch progressive Steuersätze (zweitens) ein starker Staat ermächtigt wird; der des weiteren (drittens) auf ökologische Werte festgelegt und (viertens) in seinem außenpolitischen Handlungsspielraum durch einen de-facto-Pazifismus begrenzt ist.
Keine Partei in der EU, behaupte ich noch einmal, wird gewählt, ohne sich auf diese Agenda einzulassen – ob sie sich nun explizit „sozialistisch“ beziehungsweise „sozialdemokratisch“ nennt oder ihren Namen aus anderen Traditionen ableitet. Sozialdemokratie ist also das, was heute in Europa politisch der Fall ist, und weil dies eben weit über die „sozialdemokratischen“ Parteien hinaus gilt, könnte man das Gesamtphänomen (leicht differenzierend) „Sozialdemokratismus“ nennen. Er ist zugleich Grund für die Schwächen und für die Stärke der SPD — wie sie sich etwa in den jüngsten deutschen Koalitionsverhandlungen gezeigt hat. Denn eine CDU-Kanzlerin kann bei der Aufnahme sozialdemokratischer Minister in ihr Kabinett großzügig verfahren, weil solche Minister unglaubwürdig erschienen, wenn sie je ihre politischen Differenzen gegenüber der Regierungschefin herausstellten.
Doch warum profitiert – ja nicht allein in Deutschland – jene Partei, welche den Begriff „Sozialdemokratie“ tatsächlich im Namen führt, weniger von dieser historisch singulären (aber doch fast immer übersehenen) Erfolgs-Entwicklung als ihre politischen Gegner? Ein Grund mag darin liegen, dass die Identität jeder sozialdemokratischen Partei in Europa heute von dem bedroht und am Ende absorbiert wird, was als breiter Konsensus schon immer der Fall ist – während die CDU etwa, die Grünen (mindestens bis vor kurzem) und die Liberalen (vielleicht eines Tages wieder) auch bei verschiedenen Gruppen am Rand der Wählerschaft Sympathien gewinnen können.
Hinzu mag auf der anderen Seite kommen, dass ein harter Kern von in der SPD verbliebenen Mitgliedern – teilweise wohl zurecht – in dem Ruf steht, eine für den heute dominierenden politischen Geschmack allzu kohärente und inflexible Weltsicht als Ideologie zu kultivieren. Wie die Grünen – und zugleich im Gegensatz zu den Grünen – gelten SPD-Mitglieder als besserwisserisch, genauer: als besserwisserisch im Hinblick auf Werte und Weltsichten, die viele Zeitgenossen für überlebt halten.
Als eine von allen ideologischen Obertönen gereinigte Synthese aus Sozialismus und Kapitalismus mag man den Sozialdemokratismus sehr wohl als bestes Angebot auf dem Markt der heute verfügbaren politischen Positionen ansehen. Aber wie können wir erklären, dass er spezifisch unter Europäern mit einer Konsens-Wucht erfolgreich ist, die ihn wie ein kollektives Schicksal aussehen lässt – und nicht wie das Ergebnis millionenfach punktueller politischer Entscheidungen? Eine (noch einmal) historische Antwort auf diese Frage müsste Bezug nehmen auf die Erfahrung einer allzu bewegten und deshalb traumatisch diskontinuierlichen Geschichte von ideologischen Rivalitäten im Europa des vorigen Jahrhunderts (bis mindestens 1989). Für die meisten Europäer ist wohl deshalb Stabilität ein größerer Wert als die – realistisch gesehen immer bloß minimale – Chance einer steilen individuellen Erfolgskarriere (an der den Amerikanern so liegt).
Selbst besonders erfolgreiche Europäer scheinen mittlerweile für den Stabilitäts- und Ausgleichswunsch so viel Verständnis zu haben, dass sie ihn über Steuerabgaben ohne Protest zu finanzieren bereit sind. Die dazu nötige permanente Umverteilung vertraut man dem Staat als Garanten der Stabilität an. Mehr als dies, mehr die Garantie von individueller und kollektiver Stabilität erwarten Europäer heute nicht von ihren politischen Systemen, und deshalb misstrauen sie Politikern und Parteien, die sich einerseits mit Moralvorstellungen in ihr Privatleben einmischen oder andererseits aufgrund außenpolitscher Ambitionen als potentielles Stabilitätsrisiko wahrgenommen werden wollen.
Mit diesem – profund sozialdemokratischen — Verhältnis zum Staat hat sich längst eine gemeinsame politische Identität der Länder im Vereinten Europa herausgebildet. Sie unterscheidet sich am deutlichsten von der Politik in den Vereinigten Staaten, deren Bürger – wie der prekäre Stau der Obama-Care deutlich macht – einerseits in ihrer Mehrheit jede Intervention des Staates in ihre Privatsphäre ablehnen (so sehr die Intervention ihnen nutzen mag) und andererseits vom Bundesstaat eine (milde gesagt) kraftvolle Außenpolitik erwarten. In dieser Erwartung von konturierter Außenpolitik konvergieren die Bürger in Russland und der Volksrepublik China (möglicherweise unter dem anhaltenden Einfluss des ehemaligen Staatssozialismus) mit denen der Vereinigten Staaten, während ihre Offenheit gegenüber dem versorgenden Staat größer und ihr Anspruch auf politische Einflussnahme geringer ist als in Amerika.
Verloren geht im Europa des solide sozialdemokratischen Schicksals das Bewusstsein von Alternativen. Der alle Parteien mit wirklichem Einfluss und eine potentiell repressive Mehrheit umfassende Konsensus setzt sich heute selbst zunehmend normativ. Immer weniger können selbst Wahlkämpfe die ihnen einst von Niklas Luhmann zugedachte Funktion einer innersystemischen Produktion von alternativen Werten, Motivationen und Strategien erfüllen. In dieser Konstellation des lähmenden Konsensus ist aus dem Sozialdemokratismus ein Moralismus des grenzenlos guten Gewissens hervorgegangen. Mit Erfolg – ohne Widerstand und vor allem ohne Selbstironie – treibt der politisch korrekte Wutbürger im eigensten Interesse den Staat zu immer neuen Rekorden der Umverteilung und Versorgung und legt ihn zugleich auf außenpolitische Abstinenz fest. Von außen wirken die Überlebenschancen dieser „Brave New European World“ wohl viel prekärer als in ihrer alternativenlosen Innenperspektive.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Fotos: SPD Schleswig-Holstein | SPD.de | blue-news.org