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Dr. Joachim Landkammer studierte in Genua und Turin; seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie; neben politischer Philosophie setzt er sich unter anderem mit Ästhetik und Bildungstheorie auseinander.
Das Smartphone Samsung Galaxy S4, der iPhone-5-Konkurrent, wurde seit Markteinführung Ende April mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Es erlaubt per Eye-Tracking die Funktion der sogenannten „Smart Pause“, die ein Video nur solange wiedergibt, wie man auf den Bildschirm sieht. Schaut man vom Display weg, wird die Wiedergabe pausiert; sie wird automatisch fortgeführt, wenn man wieder auf das Display sieht. Die Technik wurde im Mai 2013 in einer Promotionsaktion im Züricher Hauptbahnhof eingeführt, in der man das Handy gewinnen konnte, wenn man 60 Minuten ununterbrochen starr den Bildschirm fixieren konnte.
Die kurze Technik-Glosse in der FAZ berichtet en passant von einem neuen technischen Feature eines Smartphones: Es überwacht per Sensor die Augen des Betrachters und stoppt automatisch die Video-Wiedergabe, sobald dieser den Blick abwendet. Der Kurzbericht tut das kurzerhand als unbrauchbares Gimmick ab, das man bald abschaltet (gut, dass es sich offenbar auch abschalten lässt), aber so ganz kommentarlos sollte man die neue Geräte-Idee, als eine der vielen schleichenden Mini-Revolutionen auf unserem pfeilgraden Weg in die schöne neue Welt der Kommunikationshochtechnologie nicht vorüber- bzw. bei uns einziehen lassen.
Zunächst scheint es sich ja ganz harmlos um die vollautomatisierte Version eines „Lesezeichens“ zu handeln; so wie der CD- und DVD-Player sich mittlerweile „merkt“, wo wir ihn ausgeschaltet haben und uns beim Wiederanschalten genau an gleicher Stelle weitermachen lässt (übrigens eine spät nachholende Fähigkeit des Digitalen, die der analoge Kassettenrecorder, die VHS-Kassette und das Tonband immer schon hatten!), könnte man das als mittlerweile selbstverständliche Serviceleistung von Zeitmedien verbuchen: es erlaubt die Synchronisation der Eigenzeit des Mediums mit der Rezeptionszeit des Users. Damit wird das Problem der Parallelisierung von individuellen Lebensbedürfnissen und öffentlichen Prozessverläufen behoben; wer im Kino, Theater oder Konzert zwischendurch aufs Klo muss, versäumt unweigerlich einen Teil der Performance, wer im Semester kurzzeitig krank wird, hat evtl. wichtige Dozentenansagen im Seminar nicht mitbekommen, wen es wie Robinson auf eine Insel (oder wie bei Good bye Lenin ins Koma) verschlägt, hat bei seiner Rückkehr Probleme mit dem Wiedereintritt in die Jetztzeit der Mitmenschen.
Welche Funken eine Kultur als Gesamtheit aus so entstehender „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Ernst Bloch) auch schlagen mag, für den Einzelnen, der temporär aus der öffentlichen Zeit „gefallen“ ist, sind die Nach- und Aufholmanöver, die ihn wieder auf den „letzten Stand“ bringen sollen, prinzipiell lästig - und eigentlich zum Scheitern verurteilt. Die „verlorene Zeit“ kann man in mehrbändiger epischer Breite zwar suchen, finden wird man sie nie.
Da ist es doch eine Wohltat, dass sich wenigstens alles medial Vermittelte (und was gibt es darüber hinaus noch großartig?) auch in diesem Sinn der Anpassung an unsere private Zeitlichkeit von uns vollständig kontrollieren lässt: die Timer-Aufnahmen von Filmen, das „zeitversetzte“ Fernsehen, die Stop-and-Go-Fruition von CDs und DVDs, die Podcasts von Vorträgen und Lehrveranstaltungen erlauben uns eine fast beliebig freie (Um)-Möblierung unseres individuellen Zeitraums, und machen so etwas wie persönliches „Zeitmanagement“ erst möglich – und nötig. Denn dadurch, dass nun das Zuspätkommen, das Versäumnis, die wie auch immer bedingte temporäre physische Absenz eigentlich keine Entschuldigung mehr darstellt („wenn Sie die Sendung versäumt haben, können Sie sie im Internet anschauen“), entstehen ganz neue Zwänge des Trotzdem-Dabeigewesensein-und-Wissen-Müssens, also: „Probleme, die ich früher noch nicht hatte“.
Was aber nun, wenn der Aufmerksamkeitszwang dadurch verschärft wird, dass das Medium von selbst mit dem Senden aufhört, sobald es wahrnimmt, dass es nicht wahrgenommen wird? Man kennt das aus den Elementarlektionen der (angeblich: anti-autoritären) Schuldidaktik: die Lehrerin steht so lange still vor der Klasse, bis alle nach vorn schauen und zuhören. Der Philosoph Robert Pfaller hatte, eine Idee von Slavoj Žižek aufgreifend, dem vermeintlich zwanglosen Zwang der Interaktivität die „Interpassivität“ entgegengesetzt, eine Endnutzer-Haltung, die die Medien „einfach mal alleine machen lässt“ und sich deren Nötigung zur Partizipation entzieht.
Wenn das Comedy-Gelächter schon vom Band mitgeliefert wird, erspare ich mir das leidige Selber-Lachen-Müssen (und kann stattdessen vielleicht über canned laughter „reflektieren“, oder noch besser: nichts tun). Damit wäre nun Schluss, wenn sich der im Gerät eingebaute „Beobachter des Beobachters“ durchsetzt. Und Weiterungen des Prinzips sind ja ganz leicht zu imaginieren: das Radio, das aufhört, weil alle nur mp3s hören, Züge, die nicht fahren, weil alle das Auto benützen, Kulturinstitutionen, die stillstehen und schließen, sobald keiner mehr kommt, Politik, die nicht gemacht wird, wenn niemand wählen geht.
Es mag überzogen klingen, und sicher sind wir noch nicht soweit. Aber die Vermutung, dass sich hinter jedem Komfort-Gewinn eine Einschränkung von Freiheiten verbirgt, und dass die fortschreitende „Nutzerfreundlichkeit“ und „Dialogfähigkeit“ der Medien zum stressfördernden Partizipations-Zwang führen, wird man nicht als fortschrittsblinde Panikmache verwerfen dürfen; die Züricher Promo-Aktion zur Einführung hat den Hinseh-Terror ja mit pünktlichem Zynismus vorgeführt.
Spätestens wenn der moralistische Verdacht, unter dem das „Wegschauen-Wollen“ immer schon stand, heute zumindest insoweit technologisch unterstützt wird, dass Unaufmerksamkeit sofort registriert und mit der Einstellung der Kommunikation respondiert wird, könnte es an der Zeit sein, ganz allgemein über den Vorteil des folgenlosen, einseitig-selbstbestimmten Wegschauen- und Sich-Absentieren-Könnens nachzudenken. Wer sich umdreht, muss sich darauf verlassen können, dass die Welt hinter seinem Rücken auch ohne ihn weitergeht; wer nicht da ist, will meist nicht, dass deswegen auf ihn gewartet wird. Es ist ja manchmal ganz nett, dass meine Umwelt so furchtbar sensibel auf mich reagiert: aber ich will auch den Rückzug ins Folgenlose. „Keiner interessiert sich für mich“: das ist eine pubertäre Klage aus „Ich-Schwäche“ (Adorno). Starke Erwachsene wollen der Welt auch einfach „egal sein“.
Und so wie die Rest-Welt weiterlaufen muss, wenn ich „dann mal weg bin“ (nur so ist meine „Aus-Zeit“ wirklich eine solche, und nicht ein von mir verschuldetes Atem-Anhalten der ganzen Welt), so soll das Video auf dem Smartphone einfach weiterlaufen, wenn ich den Blick abwende. Meist gibt es ja gerade bei heutigen Handy-Videos fürs Wegschauen sehr gute Gründe.