ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Am 25. Mai 2014 findet die achte Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Diese in ganz Deutschland abgehaltene Wahl ist allerdings in vielfacher Hinsicht anders als die andere nationale Wahl, die Bundestagswahl. So ist die Beteiligung der Wähler an diesen Wahlen deutlich geringer. Dies verwundert umso mehr, als das Europäische Parlament seit dem Vertrag von Lissabon in praktisch allen Bereichen der Zuständigkeiten der Europäischen Union gleichberechtigt neben dem Ministerrat die europäische Gesetzgebung bestimmt. Das Gremium bestimmt also in sehr viel stärkerem Maße die Regeln des Zusammenlebens als beispielsweise der Stuttgarter Landtag.
Diese institutionelle Bedeutung des Parlaments steht aber im krassen Gegensatz zu seiner Reputation. Dies muss Gründe haben. Sucht man in der öffentlichen Debatte danach, so tauchen im Zusammenhang mit der Wahl zum Europäischen Parlament regelmäßig negative Stereotype auf. Regelmäßig wird die Brüsseler Bürokratie und die angebliche Abgehobenheit der Bürokraten kritisiert, wobei man dann gerne Parlamentarier und Kommissionsmitarbeiter in einen Topf wirft. Dazu gesellen sich allgemeine Vorwürfe, wie dass sich die Europäische Union um Dinge kümmern würde, die sie nichts angehen, wie beispielsweise die technischen Standards für Glühbirnen und Staubsauger.
Nun gehört es zu den Aufgaben der Europäischen Union, Industriestandards zu setzen. Sie muss sich daher auch mit Glühbirnen und Staubsaugern befassen, damit es nur einen europäischen Industriestandard und nicht 28 gibt. Insofern könnte man es sich leicht machen und die Skepsis hinsichtlich der Europäischen Union, die sich beispielhaft im Wahlverhalten zum Europäischen Parlament widerspiegelt, als ein Problem mangelnder Aufklärung betrachten. Dies ist allerdings zu kurz gegriffen. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Ursache der mangelnden Legitimität des Europäischen Parlaments Folge einer systematischen Delegitimation durch die nationalen Institutionen ist.
Dies zeigt sich zunächst daran, dass mit der wachsenden Bedeutung des Europäischen Parlaments in den letzten Jahren eine sinkende Legitimität einhergeht. Der Machtzuwachs wird von der nationalen Ebene kritisch gesehen, und man wirkt dem entgegen. Besonders das Bundesverfassungsgericht tut alles, dem Bedeutungsverlust der nationalen Ebene durch Delegitimation der EU entgegenzuwirken.
Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst durchaus zutreffend festgestellt, dass das europäische Parlament aufgrund seiner fehlenden proportionalen Zusammensetzung ein demokratisches Defizit aufweist. In der Tat: Vor dem Hintergrund der Gleichheit aller Wähler ist es schwer zu rechtfertigen, dass 400.000 Luxemburger mit sechs Abgeordneten, 80 Millionen Deutsche durch 96 Abgeordnete vertreten sind. Diese proportionale Zusammensetzung ist aber Ausdruck des Anspruchs souveräner Mitgliedstaaten, unabhängig von ihrer Größe gleich behandelt werden. Und diesen Anspruch auch der Bundesrepublik Deutschland stellt das Bundesverfassungsgericht nicht infrage.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das fehlende Initiativrecht des Parlaments. Dies könnte allerdings in einer Reform der Verträge schnell geändert werden. Damit man da nicht auf dumme Gedanken kommt, hat das Bundesverfassungsgericht gleich Europa die Demokratiefähigkeit abgesprochen. Demokratie ist nach Auffassung der Verfassungsrichter nur auf nationalstaatlicher Ebene möglich, weswegen das Bundesverfassungsgericht nun fordert, dass die nationalen Parlamente stärker in die Gesetzgebung einbezogen werden.
Das aber funktioniert nicht. Stattdessen hat dies nur zur Folge, dass immer mehr Entscheidungen durch die Staats- und Regierungschefs oder die Minister hinter verschlossenen Türen getroffen werden, die dann anschließend durch die nationalen Parlamente alternativlos durchgewunken werden müssen, weil ein einzelnes nationales Parlament an einem ausgehandelten Kompromiss wenig ändern kann.
Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Entscheidung zum Wahlrecht zum Europäischen Parlament noch weitergegangen. So wird die Existenz der europäischen Parteifamilien ignoriert und die Behauptung aufgestellt, im Europäischen Parlament seien schon über 160 Parteien vertreten. Aus diesem Grund könnten ein paar mehr Parteien auch die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes nicht beeinträchtigen. Das Europäische Parlament ist also - um es polemisch auszudrücken - so unwichtig, dass Splitterparteien, die nur Partikularinteressen vertreten, in diesem Parlament ruhig quasseln könnten.
Angesichts dieser Entwicklung verwundert die Geringschätzung des Parlaments in der Bevölkerung nicht. Das Europäische Parlament ist aber derzeit das einzige Gremium, in der die europäischen Angelegenheiten, das heißt die Gesetze, die europaweit gelten sollen, öffentlich gemeinsam verhandelt werden. Dadurch, dass die Legitimation des europäischen Parlamentes ständig und auch unter Beteiligung des höchsten deutschen Gerichtes infrage gestellt wird, wird die Wahl zum europäischen Parlament aus Sicht der Bürger zu einer unwichtigen Wahl. Da sonst keine Beteiligungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene bestehen, hat der Bürger das Gefühl, dass er in Europa nicht beteiligt ist. Denn es fällt auch den Bürgern auf, dass das nationale Parlament in europäischen Angelegenheiten machtlos ist.
Das alles wäre nicht so tragisch, wenn die von manchen politischen Gruppierungen propagierte Rückbesinnung auf den Nationalstaat eine Lösung wäre. Dies ist allerdings in einer globalisierten und vernetzten Weltwirtschaft ein gefährliches Spiel mit Frieden und Wohlstand.
Damit die Delegitimierung Europas nicht weitergeht, ist es wichtig, dass die Bürger Europa als ihre Angelegenheit begreifen und sich beteiligen. Die derzeit einzige Möglichkeit, dies zu tun, ist an der Wahl zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Es steht zu erwarten, dass, wenn mehr Menschen sich beteiligen, die Legitimation des Parlamentes wächst und vielleicht dann auch die demokratischen Defizite, die Europa derzeit unstreitig hat, beseitigt werden können. Daher wählen gehen.
Titelbild und Bilder im Text: European Parliament / flickr.com