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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Man muss kein Fan sein, um – im Blick auf die Weltmeisterschaft etwa -- konkrete Vorstellungen mit der Rede vom italienischen oder holländischen, vom brasilianischen oder deutschen Fußball-Stil zu verbinden. Und dass solche nachhaltigen Bewegungsformen nicht, wie oft angenommen wird, „Ausdruck“ nationaler Temperamente sind, ist beinahe so evident wie ihre Existenz. Denn während das Bild des brasilianischen oder des englischen Fußballs sich immerhin mit einschlägigen Stereotypen assoziieren lässt, gibt es für die schon seit einem halben Jahrhundert dominierende Defensiv-Ausrichtung des italienischen Fußballs oder für die sympathische Bereitschaft der Hollaender zum Offensiv-Risiko keine passenden Identitätsbegriffe.
Unter welchen Bedingungen solche spezifischen Stilformen aber entstehen, ist nicht leicht zu erfassen. Sie sind nur „historisch zu erklären“, nur über die Entwicklung je singulärer Geschichten ohne Induktiv oder deduktiv ableitbare Regelmäßigkeiten. Wer sich auf Stilarten im Sport konzentriert, der kann eine epistemologische Prämisse und ein methodologisches Problem kaum vermeiden. Er sieht, so die notwendige Prämisse, Bewegungen als Performanz und nicht als Handlung, das heißt: nicht in ihrer Ausrichtung auf die Verwirklichung von Motivationen, sondern als Choreographien in jeweils gegebenen Rahmungen von Räumen und Regeln. Das methodologische Problem für historische Untersuchungen von Performanz ergibt sich aus dem absoluten Mangel an bewegten Bildern, die älter als hundert Jahre sind. Möglicherweise hat diese Schwierigkeit sportgeschichtliche Forschung auf die Ebene der Institutionen und ihrer Ideologien als Hauptgebiete gedrängt. Die Rekonstruktion des Sports in seiner vergangenen Aktualität aber kann erst nach der Erfindung der belebten Bilder einsetzen und ist noch für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend auf Filmmaterial aus Wochenschauen angewiesen, das mit seiner punktuell-minimalistischen Gestik bestenfalls erste Intuitionen auslösen kann. Sie müssen dann durch meist sehr vage Sport-Beschreibungen journalistischer und manchmal literarischer Autoren zu möglicher, aber immer hypothetisch bleibender Dichte gebracht werden.
Entgegen einem gängigen Begriff vom „Fußball in Südamerika“ ist das Spiel dort ähnlich differenziert wie in Europa. Als erste nationale Stilarten, die lange vor den europäischen internationale Aufmerksamkeit fanden, sollen der Fußball in Uruguay auf den Einfluss schottischer und der Fußball in Argentinien auf den Einfluss englischer Auswanderer zurückgehen, was in Uruguay als Erklärung für ein angeblich überlegenes Niveau der „Ballbehandlung“ gilt. Deutlicher verschieden verlaufen die sozialen Grenzen für den Fußball zwischen den beiden Nationen. In Uruguay – und das heißt bei einer Bevölkerung von kaum mehr als drei Millionen: in der Hauptstadt Montevideo – entstanden um 1900 Clubs der unteren Mittelklasse (wie Penarol), und Clubs der Oberschicht (etwa Nacional), die beide durchlässig für talentierte Spieler von der Peripherie der Gesellschaft waren. In Buenos Aires dagegen dominiert bis heute eine Unterscheidung nach Stadtvierteln mit ihren Stadien und politischen Ideologien (San Lorenzo, die Lieblingsmannschaft von Papst Franziskus, gehört natürlich zu einem Arbeitervierteil mit sozialistischer Tradition).
Nach mehreren Südamerika-Meisterschaften wurde die uruguayische Nationalmannschaft und mit ihr der Fußball zur Haupt-Faszination der Olympischen Spiele 1924 in Paris. Dass der herausragende Protagonist, José Leandro Andrade, Afro-Uruguayer war, steigerte nur den Enthusiasmus im historischen Moment der Entdeckung afrikanischer Kultur als „Négritude“, während das dem Amateursport verpflichtete Internationale Olympische Komitee seither (und bis heute) jeder potentiellen Dominanz des Fußballs entgegensteuerte. Doch zunächst gewann Uruguay vier Jahre später in Amsterdam noch einmal das olympische Fußballturnier, nun gegen Argentinien, bevor dann die Spannung zwischen Fußball und olympischem Sport 1930, zur Hundertjahr-Feier der uruguayischen Unabhängigkeit von Argentinien, mit der ersten Weltmeisterschaft entschärft wurde. Uruguay siegte – noch einmal gegen Argentinien – mit 4:2.
Damit war eine erste Welterfolgs-Strecke des Fußballs am Rio de la Plata zum Ende gekommen, möglicherweise auch deshalb, weil Mussolinis Italien in Vorbereitung auf die Heim-Weltmeisterschaft 1934 argentinische und uruguayische Spieler durch „Naturalisierung“ und hohe Gehälter nach Europa lockte. Sie galten als technisch beschlagen, athletisch und diszipliniert, mit einer Sicherheits-Orientierung im Offensiv-Stil der Uruguayer, während Argentiniens vertikal-offensiver Stil mit Guillermo Stabile den ersten WM-Rekordtorschützen hervorgebracht hatte. Hier trat schon eine nationale Aura je bestimmter Spielertypen hervor, die sich mit Lionel Messi und Diego Forlán bis in unsere Gegenwart fortgesetzt hat.
Vor allem aber war jenes glorreiche Fußball-Jahrzehnt Teil eines doppelten nationalen Hochgefühls gewesen: in Uruguay, das damals als „Schweiz Südamerikas“, und in Argentinien, das als Weltwirtschaftsmacht der Zukunft galt. Gedichte im modernistischen Stil, die immer noch Teil des Literaturkanons sind, besangen herausragende Fußballer als Emblem ihrer Gegenwart und des nationalen Fortschritts. In Uruguay sollten große Erfolge der Nationalmannschaft noch zwei Mal synchronisiert sein mit Momenten der Erneuerung jenes Selbstgefühls: 1950 beim sensationellen WM-Sieg über Gastgeber Brasilien, aber auch 2010 und 2011 beim Gewinn in der Südamerika-Meisterschaft nach den überraschenden Erfolgen bei der Weltmeisterschaft in Südafrika. Ambivalenter ist das Verhältnis des nationalen Fußballs zur argentinischen Geschichte: der erste Weltmeisterschafts-Sieg von 1978 im eigenen Land ist für immer mit der Erinnerung an die grausamste aller Militärdiktaturen des Kontinents verbunden, während der zweite Weltmeisterschafts-Gewinn im Jahr 1986 offenbar als Symbol eines neuen Aufbruchs zur Demokratie erfahren wurde.
Kaum später als am Rio de la Plata, doch unter anderen sozialen Voraussetzungen setzte der brasilianische Fußball ein. In den Regatta-Clubs der privilegierten Viertel entlang der Strände von Rio, besonders in Flamengo und Botafogo, wurden Einwanderer und lokale Eliten zu einer homogenen Schicht, welche – wie auch die Nationalmannschaft – für Spieler afrobrasilianischer und proletarischer Herkunft weitgehend verschlossen blieb. Zugleich entstanden vor allem in Sao Paulo Clubs für die Unterprivilegierten verschiedenster Herkunft. Zu ihnen gehörte der SC Germania, wo Arthur Friedenreich, der Sohn eines deutsche Vaters und einer afro-brasilianischen Mutter, zum ersten Protagonisten des brasilianischen Fußballs wurde. Mangels internationaler Erfolge und der daran gebundenen Film-Dokumentationen ist es kaum möglich, sich ein Bild vom brasilianischen Fußball vor der Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich zu machen. Erst dort war die Nationalmannschaft zum ersten Mal mit einer Reihe afro-brasilianischer Spieler erfolgreich, vor allem mit dem schnell zu Star-Status aufgestiegenen Leonidas da Silva, der bereits -- wie ein Vierteljahrhundert später Mané Garrincha -- jenen artistischen und manchmal verspielten, immer riskanten und oft unwiderstehlichen Stil verkörperte, den wir bis heute vom brasilianischen Fußball erwarten.
Im Klima der proto-faschistischen Ideologie um den Präsidenten Getúlio Vargas wurde diese Form als „dionysischer Tanz“ noch vor dem Ende der Weltmeisterschaft 1938 von Intellektuellen wie dem großen Anthropologen Gilberto Freye zum Emblem einer erwünschten nationalen Identität der „Rassenmischung“ erhoben und von Zuschauern aller sozialen Klassen gefeiert. Deutlicher noch als in Uruguay und Argentinien hat dieser Stil des Fußballs auf das kollektive Selbstbild der Brasilianer zurückgewirkt – vielleicht weil in Brasilien auch die Krisen des Nationalsports oft mit Krisen der nationalen Politik konvergierten. Die bis heute so genannte „Tragödie“ der Niederlage gegen Uruguay von 1950 mag den Niedergang des Vargas-Staats mit ausgelöst haben, der dann – nach einer weiteren enttäuschenden Weltmeisterschaft – im August 1954 mit dem Selbstmord des Präsidenten unter massiven Druck des Militärs endete. Vor allem wegen der ersten Fußball-Weltmeisterschaft (5:2 gegen Schweden in Stockholm), aber auch in Erinnerung an eine Aufbruchsstimmung unter dem Präsidenten Juscelino Kubitschek, als etwa die Realisierung des Projekts einer Hauptstadt im Zentrum des Landes einsetzte, gilt 1958 als das „glückliche Jahr“ in der brasilianischen Geschichte. Trotz aller spektakulären Veränderungen des Landes im vergangenen Jahrzehnt scheint eine grundlegende Veränderung jenes Identitätsbegriffs und jenes Fußball-Stils bis heute undenkbar.
Warum hat sich aber in Chile, der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Modell-Nation Südamerikas, wenn man von den Jahren der Militärdiktatur unter Pinochet absieht, keine erfolgreiche und mit einem bestimmten Stil verbundene Fußball-Tradition herausgebildet? Ihre Geschichte begann wie in Brasilien mit einer Abschottung zwischen den heterogenen Unterschichten und jenen Clubs (sie trugen häufig oft englische Namen wie „Wanderers“ oder „Everton“), wo eine nationale Quasi-Aristokratie der Einwanderer-Elite begegnete. Es muss mit einer früh entstehenden Dominanz sozialistischer Ideen in der chilenischen Politik zu tun gehabt haben, dass seit mittlerweile fast hundert Jahren vor allen die Unterschichten-Clubs ein offensives Selbstbild vom Amateursport geprägt haben, das jeden Professionalismus mit einem moralischen Vorurteil belegte -- und die Oberschichten motiviert haben mag, sportliche Aktivitäten mit der Institution der Universität zu assoziieren (neben dem Rekordmeister Colo Colo, dessen Name an einen mythologischen „Häuptling“ aus vorkolonialer Zeit erinnern soll, aber 1926 von Universitätsabsolventen erfunden wurde, dominieren im chilenischen Fußball bis heute „Universidad de Chile“ und „Universidad Católica“). Zugleich hat sich in Chile ein Selbstbild als „bescheidenes“ und „kleines Land“ ausgeprägt, das angesichts der geographischen Ausdehnung und einer stabilen Bevölkerung von siebzehn Millionen eigenartig überzogen wirkt. Beide Faktoren aber, der sozialistische Vorbehalt gegen den Berufssport und die „Bescheidenheit“ als dominanter Selbstbild-Wert müssen das Entwicklungspotential des Fußballs in Chile begrenzt und damit verhindert haben, dass Erfolge – wie der dritte Platz bei der heimischen Weltmeisterschaft von 1962 – je zum Ausgangspunkt einer eigenen Stiltradition wurden.
Fußball-Stilarten existieren als Erinnerung an choreographische Formen und beruhen, wo sie nachhaltig werden, auf zwei voneinander untrennbaren Voraussetzungen – wie der Kontrastfall Chile deutlich macht. Obwohl sie nicht als Allegorien oder als Symbole entstehen, sondern meist wohl tatsächlich auf Ideen großer Trainer zurückgehen – wie Helenio Herreras „Catenaccio“ und Rinus Michels’ „Fußball total“ – müssen sie im Hinblick auf nationale Selbstbilder und Geschichten Allegorie-fähig sein. Kontinuität erlangen Fußball-Stilarten dann über den Emblem-Status charismatischer Spieler-Gestalten und erfolgreicher Mannschaften. Viel bemerkenswerter aber als die Entstehung und Existenz solcher Stilarten ist die Schwierigkeit, sie zu überwinden. Für Brasilien und Deutschland, zwei der klassischen Fußball-Nationen, gilt ja die Konsolidierung eines Stil-Wandels als Erfolgsbedingung für die nächste Weltmeisterschaft – so sehr sie auch immer wieder von einem Rückfall in traditionelle Muster bedroht ist.
Das Verstehen dieses Phänomen-Komplexes könnte zu einem Paradigma für die Analyse nationalkultureller Tonalitäten werden. Wir alle wissen, dass benachbarte National-Kulturen wie etwa die schweizerische und die österreichische, die spanische und die portugiesische ausgesprochen verschieden geblieben sind, vor allem in einer Grund-Dimension der Stimmung, welche einschlägige Forschungen kaum je in den Blick gebracht haben. Könnte sich der von Joachim Löw vorgedachte Stilwandel im deutschen Fußball als so unrealistisch erweisen wie zum Beispiel der Vorschlag, einen Wienerischen Satzrhythmus in der Sprache der Zürcher zu etablieren?
Titelbild: Michael Mimolalen / flickr.com
Bilder im Text: DGTX, Timo Sachsenberg, sechtem, MarkHaertel, Marc / flickr.com