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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Dass es so etwas wie eine Konjunktur der Tiere als intellektuelles oder sogar philosophisches Thema gibt, muss mir zum ersten Mal vor ungefähr zehn Jahren aufgefallen sein. Schon vorher hatte ich anlässlich seines Rufs an die Princeton University von den scharfen ethischen Forderungen des australischen Philosophen Peter Singer zugunsten der Tiere gehört — und von den skandalösen Gewalt-Drohungen gewisser Interessen-Gruppen gegen ihn. Aber das sah zunächst wie einer von jenen Momenten aus, in denen eine exzentrische Position und ihre sehr deutliche Beschreibung als Denk-Impuls wirkt – wie einer von jenen Momenten auch, welche zusammengekommen die Stärke der Philosophie als diskursive Praxis ausmachen, ganz unabhängig davon, ob man mit dem Inhalt einer spezifischen Position übereinstimmt oder nicht.
Den Gedanken an eine Konjunktur der Tiere als intellektuelles Thema löste dann eine ganz andere Perspektive in einem Essay des kanadischen Philosophen Ian Hacking aus, und diese Perspektive war mir sympathisch, obwohl ich zu denen gehöre, die mit Tieren weniger als nichts (im wörtlichen Sinn) anfangen können, weil sie eine primäre Berührungsangst vor ihnen haben. Hacking schlug – für mich eben sympathischerweise – ein Überdenken der gängigen These zur Domestizierung einiger Tiergattungen vor. Es sei vorstellbar oder gar wahrscheinlich, las ich, dass besondere „praktische“ Gründe – zum Beispiel die Wach- und Warn-Funktion der Hunde oder die Transport-Funktion der Pferde – erst sekundär von den Früh-Menschen entdeckt und entwickelt worden seien, nach primären Kontakten des gemeinsamen Spiels oder etwa der wechselseitig geschenkten Wärme beim Schlafen in räumlicher Nähe.
Hinter all diesen verschiedenen Fragen und Thesen, welche zusammen die Konjunktur der Tiere in intellektuellen Gesprächen und Texten ausmachen, scheint als Auslöser eine Verunsicherung im Blick auf unseren Status „als Menschen“ zu stehen, eine Verunsicherung der „Selbstreferenz“, wie man etwas akademisch strikter sagen könnte. Und „Verunsicherung“ schließt hier zweierlei Denk-Impulse ein: einmal Abstriche gegenüber einem institutionalisierten, allgemeinen und betont positiven Selbstbild der Menschen; zum anderen eine philosophisch weiter gehende (und manchmal tatsächlich auch alltagspraktisch motivierte) Ungewissheit hinsichtlich der Stellung des Menschen unter allen anderen biologischen Gattungen. Auf beiden Ebenen scheint etwa das westliche achtzehnte Jahrhundert als Zeit einer hohen Selbstgewissheit im Hinblick auf die Identität und die kosmologisch-historische Rolle des Menschen kaum Anfechtungen gekannt zu haben – weshalb intellektuelles Interesse an Tieren damals marginal blieb.
Im vergangenen Jahrhundert hingegen haben sich zwei verschiedene Phasen eben dieses Interesses überlagert und letztlich abgelöst. Seit den Zeiten von Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud schon brachte man gegen das eindimensionale Bild eines ausschließlich vernunftgesteuerten Menschen seine (positiv oder negativ bewerteten) „Impulse“ oder „Triebe“ als eine Dimension ins Spiel, welche in bloß assoziativer oder in evolutionsgeschichtlich differenzierter Weise an „das Tier im Menschen“ erinnern konnte. Diskussionen dieser Art berührten kaum die Stellung des Menschen im Kosmos, welche bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus – unbewusst oder bewusst ganz im Sinn der Schöpfungsbeschreibung von „Genesis“ – eine hierarchische Überlegenheit und Verfügungsgewalt der Menschen über den Rest der Schöpfung voraussetzte. Deren Revision wurde erst ausgelöst von der wachsenden Resonanz auf die sich seit dem dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts zeigende ökologische Sorge, dass eine unreflektierte Nutzung dieser absoluter Verfügungsgewalt zu langfristig irreversiblen Veränderungen in der Natur-Umwelt der Menschen geführt haben könnte; zu Veränderungen, durch die ihr Überleben als Gattung in Frage gestellt sei.
In diesem argumentativen und historischen Rahmen ist es dann schnell gang und gäbe geworden, von „den Rechten“ der Tiere“ (und sogar von „den Rechten“ bestimmter Dinge) zu sprechen und sich zu ihren Fürsprechern zu machen. Es bedarf allerdings keines besonderen philosophischen Scharfsinns, um zu verstehen, dass die Redeweise von „den Rechten der“ im Normalfall die Möglichkeit der Rechte-Besitzer unterstellt, ihre Interessen oder ihre Gefühle selbst zu artikulieren. Weniger selbstverständlich ist, was der portugiesische Philosoph Miguel Tamen in einem brillanten und zugleich unterhaltsamen Buch herausgearbeitet hat („Friends of Interpretable Objects“, es ist auf Englisch erschienen): wo die Möglichkeit jener Selbst-Artikulation nicht wirklich gegeben ist (wie bei Dingen und auch bei Tieren), neigen wir (Menschen) dazu, eine nicht in Zweifel zu ziehende „Interpretierbarkeit“ der Rechte-besitzenden Tiere oder der Rechte-besitzenden Dinge vorauszusetzen. Genau diese Voraussetzung ist aber nie zu erfüllen.
Vor einigen Tagen las ich in der freundlichen (und wie ich glaube: berechtigten) Polemik eines deutschen Zoo-Direktors gegen radikale Forderungen gegenwärtiger Tierschützer den – zunächst ja plausibel wirkenden – Satz, man solle Gorillas „als Gorillas“ leben lassen. Doch was das — im vorausgesetzten Sinn — je sein und bedeuten könnte, werden wir nie wissen. Es geht hier tatsächlich nicht allein um eine „Bedeutung“ und um die Grenzen unserer menschlichen Interpretationsfähigkeit im Hinblick auf das Bild der Gorillas (oder auch nur eines Gorillas) vom guten Gorilla-Leben. In Frage steht schon die implizite Annahme des Zoo-Direktors, dass es ein solches Gorilla-Bild vom guten Gorilla-Leben überhaupt geben könnte, weil sie eine Struktur der Selbst-Beobachtung voraussetzt, die wir aus unserer beständig mitlaufenden menschlichen Selbstbeobachtung kennen, aber nicht einmal bei Primaten als gegeben voraussetzen dürfen. Selbst der so oft – und letztlich wohl zurecht – gebrauchte Ausdruck vom „Leiden“ bestimmter Tiere ist in diesem Sinn problematisch.
Deshalb sollten die in den meisten Ländern existierenden Gesetze, welche Exzesse von „Tierquälerei“ unterbinden sollen, eigentlich nicht als Gesetze „im Namen der Tiere“ präsentiert werden. Denn institutionell und diskursiv setzen Rahmen-Begriffe wie „Ethik“ oder „Politik“ Grundbedingungen der Partizipation voraus, die man allein für Menschen als mit Gewissheit gegeben annehmen kann. Anders gesagt: die einzige gegen jeden Einwand immune Begründung für Gesetze gegen Tierquälerei (etwa) ist ein mehrheitsfähiges Selbstbild der Menschen, das mit dem Selbst-Verdacht unvereinbar ist, Tieren Schmerz zuzufügen.
Doch gibt es überhaupt Anlass, derart explizit und mit — zumindest in ihrer Ausformulierung – schwerfälligen Argumenten an Sachverhalte zu erinnern, die – einmal ausformuliert – derart selbstverständlich wirken? Meine Antwort heißt ja, weil ich glaube, dass hier mehr als eine bloße Sprach-Regelung oder eine sprachliche Selbst-Aufklärung auf dem Spiel steht. Die Redeweise, „im Namen der Tiere“ oder als „Anwalt einer Ethik“ zu sprechen, welche Tiere einschließt, wird immer wieder – mit oder ohne manipulatorische Absicht – in impliziter Ausdehnung auf die „Ethik des Kosmos“ und in Kontexten gebraucht, wo sie nicht existierende politische Mehrheiten ersetzt. Wer für sich ohne weiteres in Anspruch nimmt, „im Namen der Menschheit“ oder mutiger noch „im Namen des Kosmos“ zu sprechen, der glaubt in den meisten Fällen wohl auch, sich um – nur scheinbar banale — Mehrheitsverhältnisse nicht zu kümmern zu müssen. Gewiss, in ihrer Mehrheitsfähigkeit liegt auch unter demokratischen Rahmenbedingungen nicht die einzige Rechtfertigungsmöglichkeit von Gesetzen, Verboten und Vorschriften. Aber andererseits: wird es denn zum Beispiel ganz und gar unproblematisch sein, die kulturelle Tradition des Stierkampfs durch Gesetze auszulöschen, welche einerseits nicht mehrheitsfähig sind und andererseits eine nicht einzulösende Interpretationsfähigkeit über die Grenze der Gattung „Mensch“ hinaus unterstellen?
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Esther Simpson / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: Nathan Rupert / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Morgennebel / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Peter / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Jason Vines / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm