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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Lebensformen haben ihre das Jahr gestaltenden Rhythmen, und zum Rhythmus des Universitätslebens gehört eine betonte Diskontinuität. Ausführliche „Frühjahrs-Semesterferien“ gibt es eigentlich nur in Deutschland, aber überall ist der Sommer eine Zeit des Winterschlafs für die Universität als Institution. Deshalb werden Dozenten-Gehälter an vielen privaten Hochschulen der Vereinigten Staaten über neun Monate ausgezahlt, was allerdings nicht notwendig bedeutet, dass intellektuelles Leben von Juni bis September zum Stillstand kommt. Für Geisteswissenschaftler zum Beispiel sind die Monate des institutionellen Winterschlafs eine Zeit des intensiven Lesens und Schreibens. Umso schwerer fällt dann die jährliche Rückkehr zu einem Wochenrhythmus, der eisern fast und ganz unverrückbar an die Wiederkehr von Lehrveranstaltungen, Sprechstunden und administrativen Sitzungen gebunden ist.
Auch nach vierundvierzig Jahren in der Zeitmaschine der Universität sind der späte September und der frühe Oktober für mich eine Strecke des unwilligen Abschieds vom Sommer des Lesens und Schreibens geblieben, in der ich vor dem immer neuen Beginn des Lehrens, so lange es geht, die Augen verschließe. Wenn die Seminare und Vorlesungen dann aber doch anfangen, meine ich – heute mehr noch als in meiner beruflichen Jugend – nachvollziehen zu können, wie mühsam es sein muss, einen Rollstuhl in Schwung zu bringen. Es gibt so viele Bemerkungen, Prämissen und Begriffe, die in jedes Seminar neu einzupflanzen sind, es gibt das immer aufs Neue prekäre Zusammenwachsen (oder Scheitern) der Gruppe, die um einen Tisch sitzt und diskutieren soll – und doch glaube ich dann irgendwann im November auch immer wieder, dass es der Mühe wert war, dass keine andere institutionelle Lebensform der Universität gleichkommt an Offenheit, Risiko, Intensität und manchmal auch, für einen Augenblick, an Intuitionen der Erfüllung.
Wie ihr jährlicher Rhythmus so ist auch die Geschichte der Universität durch Diskontinuität gekennzeichnet. Zwar stammt der Begriff, mit der wir sie benennen, aus dem Mittelalter, doch die Lebensform, die wir Älteren weiterhin im Kopf haben, wenn wir „Universität“ sagen, kommt aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, aus der Zeit der ersten Entfaltung einer „bürgerlichen“ Gesellschaft. Zwar hat sich die Universität in sehr verschiedenen nationalen Traditionen ausgebildet, die dann von Europa aus weltweit prägend wurden, doch niemand hat den Fluchtpunkt ihrer Idealform so inspiriert und so inspirierend beschrieben wie Wilhelm von Humboldt in den (erst Jahrzehnte nach seinem Tod entdeckten) Notizen für die „Gründung einer Universität zu Berlin.“ Drei Gedanken stehen im Vordergrund.
Die Universität soll – erstens – der Hervorbringung neuen Wissens dienen (und zwar ausschließlich: Wissensvermittlung, schreibt Humboldt, ist die Aufgabe des Gymnasiums). Damit der Staat dieses Ziel der Wissenserneuerung erreicht (an private Universitäten dachte der preußische Staatssekretär Humboldt noch nicht), muss er die Universität finanzieren („alimentieren“ ist Humboldts Wort), ohne – zweitens – an diese Finanzierung irgendwelche intellektuellen Vorgaben oder Bedingungen zu binden: denn wenn die Universität stets jenes Wissen produzierte, das der Staat von ihr erwartet, wäre sie nie innovativ. Als Energie-Zentrum der Universität identifiziert Humboldt – drittens – die Begegnung von Studenten und Professoren. Ihre je verschiedenen Tonalitäten des jugendlichen und des reifen Enthusiasmus sollen sich wechselseitig immer weiter anspornen und tragen. Hier liegt die Grundidee jener Struktur, die man später als das Prinzip der „Einheit von Forschung und Lehre“ kanonisiert und kultiviert hat. Sobald ihre Dynamik – zumal in den kleinen Arbeitsgruppen des geisteswissenschaftlichen „Seminars“ und des naturwissenschaftlichen „Labors“ – Fahrt aufnimmt, können wir die Universität als singulären Ort von Intensität und Erfüllung erleben.
Um diesen geistigen Kern von Intensität, Erfüllung und Freiheit haben sich, getragen von der besonderen Euphorie der Universität, schon im Jahrhundert Humboldts national je verschieden gefärbte Formen und Rituale der Gesellschaftlichkeit ausgebildet. Das Studentenleben von Alt Heidelberg zum Beispiel, mit den an ihrem historischen Beginn patriotisch hochgestimmten „Verbindungen“ und einer alle bürgerlichen Konventionen ausblendenden Neigung zur „Liebe“. Die exklusiv-mondänen Zirkel des literarischen und politischen Geschmacks in Oxford und Cambridge, nach denen sich Oscar Wilde sehnte, als er im Zenit seines Weltruhms stand. Oder die auf Veränderung der jeweils etablierten Überzeugungen und Verhältnisse konzentrierte Intellektualität der Studenten an der Sorbonne im fünften Arrondissement von Paris. Heute ist das Leben dieser Außenwelten zum Stillstand gekommen, sie existieren nur noch herausgeputzt als Touristen-Attraktionen, an die man sich eher über T-Shirts erinnert als im Nachhall von Klassiker-Lektüren. Und – Hand aufs Herz — wie oft stellt sich denn jenes November-Gefühl noch ein, dass ein Seminar seine Dynamik gefunden hat und steigert, wann haben meine Studenten zum letzten Mal geglaubt, dass ein Gastvortrag oder eine eben erschienene Publikation existentiell – nicht nur professionell – wichtig für sie war?
Der Name der Universität und ihr Fortbestehen als Institution mögen heute weniger denn je in Gefahr sein – aber das Leben des Geistes als ihrer Energiequelle scheint im Normalfall der Gegenwart zu einer melancholischer Erinnerung vertrocknet. Was hat sich verändert seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, als eine Generation von Kriegsheimkehrern noch in Hörsälen neu zu leben lernte? Seit 1968, als der Geist der Jugend Staat und Gesellschaft revolutionieren wollte? Seit den siebziger und achtziger Jahren, als es zeitgenössische Theorie-Autoren gab, deren je letztes Buch man einfach gelesen haben musste? Paradoxalerweise führen die evidenten Antworten auf solche Fragen zu Gründen, die man auf das Konto des sozialen Fortschritts gebucht hat – und buchen muss.
1926 gab es an den dreiundzwanzig akademischen Hochschulen Deutschlands etwa hunderttausend Studenten. In Marburg fluktuierte ihre Zahl zwischen „etwas über dreitausend“ im Sommer und „etwas unter dreitausend“ im Winter, und dass Martin Heidegger eine Vorlesung vor mehr als sechzig Hörern hielt, galt als eine Sensation, welche die Eifersucht seiner Kollegen weckte. Heute ist ein Universitätsabschluss zur Normalerwartung für Jugendliche des Mittelstands geworden und auch zur Normalvoraussetzung für eine Vielzahl von beruflichen Laufbahnen. Eine positive Entwicklung gewiss, doch sie hat das Hoch-Gefühl der Studenten von früher absorbiert, in einer Ausnahmesituation zu leben – und mit ihm die Möglichkeit, in der Präsenz eines Seminars oder einer Vorlesung zur Gemeinschaft zu werden.
Der Humboldt’sche Kern der Universität aber hatte sich schon früher aufgelöst, seit jener Zeit nämlich, als die Universität primär zu einer Institution der Vermittlung von beruflichem Wissen geworden war, wo die Produktion neuer Einsichten zunehmend als wünschenswerte, aber periphäre Ausnahme galt. In einigen Restbeständen hat das Ideal der Einheit von Forschung und Lehre bis heute weitergewirkt, etwa in der – keineswegs verpflichtenden und exklusiv deutschen — Erwartung, dass Medizinstudenten ihr Studium mit einer auf Forschung beruhenden Doktorarbeit abschließen sollen. Der von den angesehensten Dozenten herbeigesehnte Normalfall aber ist heute die Auslagerung der Spitzenforschung in Institute, die an der Lehre nicht mehr partizipieren.
Solchen Instituten sind – mit Ausnahme der Geisteswissenschaften wohl – entgegen Humboldts Empfehlung ihre Forschungsschwerpunkte und Aufgaben von dem sie „alimentierenden“ Staat durchaus vorgegeben, weil ja die Frage längst politisch allgegenwärtig geworden ist, ob die Kosten der Forschung durch ihre Relevanz gegenüber „dem Steuerzahler“ zu rechtfertigen seien. Zugleich betonen die technologisch fortgeschrittensten Industrien – nirgends lauter übrigens als in Silicon Valley – dass sie selbst die jeweils relevante Forschung, aber auch die Ausbildung zukünftiger Mitarbeiter effizienter und mithin weniger kostenaufwendig organisieren können als die Universitäten. Streng – und vielleicht allzu pessimistisch – genommen bedeutet all dies, dass in der Universität des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht allein Forschung und Lehre ihre Humboldt’sche Nähe verloren haben; darüber hinaus werden der Universität – in voneinander unabhängigen Bewegungen – die Forschung und die Ausbildung selbst immer weiter entzogen.
Eine Zukunft zeichnet sich ab, in der die Universität primär zu einem Ort des Verweilens und der Unterhaltung für jene mehr oder minder qualifizierten Jugendlichen geworden sein wird, die der Arbeitsmarkt nicht mehr zu absorbieren braucht. Und diese Entwicklung – hin zum geistigen „Club Méditerranée“ – nehmen ja jene Hochschulen bereits vorweg, die durch „Schnuppertage“ und andere Werbemaßnahmen das Wachsen ihrer Studentenzahlen betreiben. Intensiviert und konkretisiert wird die vielfache Tendenz zur „Entleerung“ der Universität schließlich durch das von der elektronischen Technik so leicht gemachte „Fernstudium“ und die um sich greifende Aufhebung der Präsenzpflicht als seine durchaus plausible Folge.
Die Universität als Ort des lebendigen Geistes, als Ort, an dem die verschiedenen Tonalitäten der Begeisterung verschiedener Generationen einander inspirierten, so stelle ich mir in der Lethargie des Frühherbstes vor — und als Angestellter einer Elite-Universität, welche diesen Namen durchaus verdient und sich dennoch dieser Tage für ihre Freshmen wie ein kalifornischer „Club Méditerranée“ verkleidet —, die Universität als Ort des lebendigen Geistes wird bald nur noch eine nostalgisch-verklärte Erinnerung unter uns Alten sein. Allerdings bedeutet dies nicht, dass der lebendige Geist gestorben wäre, und wohl noch weniger, dass wir in einer Zeit gesellschaftlichen Verfalls leben. Es bedeutet nur, dass sich die Lebens-Spanne jener institutionellen Form zu ihrem Ende neigt, die mich gut ernährt und noch viel besser unterhalten hat – und dass der Geist wohl schon woanders weht.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Will Folsom / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: David Ausserhofer (Pressematerial FU Berlin),
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm