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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Seit der moderne Sport zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Mitteleuropa und auf den britischen Inseln begann, seine spezifischen (und sehr verschiedenen) institutionellen Formen auszubilden, die Welt des Berufsboxens und der Pferderennen etwa, die Mannschaftsspiele am College und das Turnen während der nationalen Befreiungskriege, hat sich eine – der klassisch-antiken Kultur offenbar fremde – Erwartung herausgebildet und immer weiter verstärkt, nach der große Athleten „Vorbilder“ – vor allem „für die Jugend“ – sein sollen (der englische Begriff „role model“ fasst diese Vorstellung wohl noch etwas genauer). Dabei ist der Horizont der zu verkörpernden und dann zu übernehmenden „Tugenden“ recht schmal geblieben, auffällig nah auch beim Repertoire der sportlichen Verhaltenscodes selbst. Das berühmte „Fair Play“ zum Beispiel war ja nicht viel mehr als der freiwillig-„ritterliche“ Verzicht auf sich gelegentlich bietende Vorteile, welche die Gleichheitsbedingungen unter Teilnehmern an einem Wettbewerb brechen. Noch deutlicher hängt die heute in Deutschland so obsessiv beschworene „Demut“ ab von der historischen spezifischen Situation des Sports in unserer Gegenwart, denn sie setzt ja voraus, dass seine Helden im Regelfall bestimmte Privilegien genießen – und diese nicht als Überlegenheitsansprüche missverstehen sollen. Mit anderen Worten: oft bleiben die für Sportler als typisch angesehenen Tugenden außerhalb des Sports beinahe dysfunktional.
Dass es überhaupt nicht so weit her ist mit den – enger oder weiter aufgefassten — Tugenden der großen Sportler, ahnen selbst ihre Fans. Ich erinnere mich manchmal an das Trauma eines Kollegen und bedeutenden Sportphilosophen, der als Zehnjähriger den schon als Spieler geadelten Stanley Matthews, Rechtsaußen der englischen Nationalmannschaft und in den fünfziger Jahren ein Emblem des Fairplay, um ein Autogramm bat. „Fuck off“, sagte Sir Stanley mehr als nur trocken – und schlug eine bleibende Wunde. Weniger unsympathisch, weil frei von aller Doppel-Moral ist das längst zum Traditionsbestand gewordene Rollenprofil jener Supersportler, die auf ironische oder gar drastische Distanz zur Tugenderwartung gehen. Vielleicht war der Zigarren rauchende, in der Zeit der Prohibition jede Art und jede Menge von Alkohol konsumierende, mit seinem Einkommen protzende und rührend großzügige Babe Ruth, der bis heute als charismatischer Baseballspieler nicht überbotene Babe Ruth, die Urgestalt dieses Typs.
Einige der eindrucksvollsten Fußballspieler unserer Zeit wirken auf mich wie Neffen des Babe, wie Neffen, die ihren Onkel nicht kennen, aber doch die von ihm begründete Tradition kreativ fortsetzen. Zu ihnen gehört wohl kaum der (außer beim Steuerzahlen) konsistent brave Lionel Messi, doch bestimmt Zlatan Ibrahimovic, der so gerne betont, dass er das Ghetto verlassen hat, während das Ghetto ihn nie verlassen wird; oder — in einer etwas sonniger-mediterranen Variante — der so gern seine Muskeln vorzeigende Cristiano Ronaldo; und vor allem Mario Balotelli, wie er im Halbfinale der vergangenen Europameisterschaft nach dem vernichtenden zweiten Tor wie ein Monument im deutsche Strafraum stand und in ebenso aufreizender wie monumentaler Arroganz sein Trikot auszog. Nichts war weiter entfernt von moralischen Vorbild-Funktionen (oder gar von „Demut“) als jener ikonische Augenblick – und dennoch konnte niemand die Vollkommenheit von Balotellis Leistung in jenem Spiel zerreden.
Balotelli ebenso sicher wie Ibrahimovic und wohl auch Ronaldo müssen zu einem bestimmten Moment ihrer Spieler-Karriere beschlossen haben, sich der Vorbild-Erwartung zu verweigern – und sind insofern von ihr geprägt. Um aber zu verstehen, wie grundsätzlich unangemessen diese Tugend-Zumutung gegenüber Sportlern ist, sollten wir uns eher auf Athleten konzentrieren, die sichtbar von ihr überfordert waren – und nicht selten sogar an ihr gescheitert sind. Mané Garrincha, nach dem das neue WM-Stadion in der brasilianischen Hauptstadt benannt ist, Mané Garrincha, die spektakulärste Erscheinung der Weltmeisterschaft von 1958 und offiziell der beste Spieler beim Weltturnier in Chile vier Jahre später, Mané Garrincha war ein genialer Stürmer und ein einfacher Mann, der vor den Anmutungen einer Art von Größe, die ihm nicht gegeben war, bald schon in den Alkoholismus floh. Es gibt ein Filmdokument, wo er betrunken und fünfzigjährig auf dem Thron eines Karnevalswagens in Rio de Janeiro sitzt – und an die Ikonographie des gegeißelten und bespieenen Jesus Christus erinnert.
Das Leben des einst im Strafraum so unwiderstehlichen Gerd Müller hätte – ohne die lebensrettende Unterstützung seiner ehemaligen Mannschaftskollegen — zu einer deutschen Version des Garrincha-Schicksals werden können. Und sind wir nicht alle auf die billigste Weise schadenfroh, wenn „Loddar“ Matthäus wieder einmal als Trainer gescheitert ist — oder an der elementarsten Phonetik der englischen Sprache? Dabei „schulden“ Protagonisten wie Lothar Matthäus, Gerd Müller oder Mané Garrincha der Nachwelt gar nichts. Im Gegenteil: sie und so viele andere Athleten haben ihre Zuschauer ausgezeichnet unterhalten — und dabei zwar gut, aber manchmal doch nicht gut genug verdient, um nach ihrem Abschied vom Spitzensport im Leben zurecht zu kommen.
Die antike griechische Kultur, deren Stadtstaaten ihre Sieger bei den panhellenischen Spielen lebenslang ohne finanzielle Sorgen leben ließen, hatte ein ganz anderes, weit von allem Moral-Druck entferntes Verhältnis zu sportlicher Größe. Im sechsten Jahrhundert schon besang Pindar den Glanz — und tatsächlich die Farbe — der Athleten, die für ihn Vor-Bilder in einem ganz anderen Sinn waren: Vor-Bilder, in deren Erscheinung die mächtige Hilfe der Götter sichtbar wurde. Weil der Glaube an solche Hilfe durch arbiträre, leidenschaftliche und beinahe allmächtige Götter weit jenseits des für unsere moderne Vernunft Plausiblen liegt, müssen wir uns fragen, was denn heute den ganz anderen Glanz der Athleten ausmacht – neben oder gar jenseits der Dimension von Tugenden, die ihnen angemutet werden. Große Sportler, können wir sagen, inspirieren zunächst den Wunsch einer Nachfolge, sie haben Charisma, aber im Unterschied zu den Charismatikern anderer Sphären des Lebens verfügen sie über keinerlei Macht (sondern sind – ganz im Gegenteil – in fast jeder Hinsicht abhängig von den Unternehmen, die sie bezahlen, und den Verbänden, die ihre Spiele organisieren).
Zweitens vertrauen wir darauf, dass die physische Gegenwart der Athleten, so wie einst die Gegenwart von Heiligen, außergewöhnliche Leistungen und außergewöhnliche Momente heraufbeschwört, obwohl sie für uns – ganz unabhängig von möglichen religiösen Impulsen in ihrem Leben – immer Heilige unter leerem Himmel bleiben. Weil man schließlich schon lange verstanden hat, dass die „Stars“ seit dem späten neunzehnten Jahrhundert, als dieses Wort erfunden wurde, zumindest einige traditionelle Funktionen der Heiligen übernommen haben, sollten wir auch erkennen, wie sich Sportler von anderen Stars unterscheiden. Ihr Sonderstatus hat, denke ich, mit Zeitlichkeit zu tun. Die allermeisten berühmten Sportler verlieren rasch ihren Star- und Heiligen-Status, wenn sie – früher in ihrem Leben als Schauspieler oder Sänger zum Beispiel – aus der Welt ihres Erfolgs, der Welt der Wettkämpfe abtreten. Und selbst innerhalb ihrer Karriere ereignen sich die unvergesslichen Leistungen in Sekundenbruchteilen, die auch mit medial perfekten Technologien der Wiederholung nie mehr ganz einzuholen sind.
Welche Art von Erlebnis oder Erfahrung ist es dann, welche das Charisma, der Star-Status und die Zeitlichkeit der Sporthelden ihren Bewunderern schenken? Die Erfahrung einer Wahrheit, begriffliche Erfahrung ist hier nicht im Spiel. Denn die Leistungen von Athletinnen und Athleten gehören zur Dimension der Performanz und der Präsenz. Dort ist entscheidend, dass Körperbewegungen von optimaler Form im gegebenen Moment mit der größten denkbaren Effizienz ausgeführt werden – manchmal tatsächlich in einer Vollkommenheit, die nicht vorstellbar war, bevor sie sich ereignete. Dabei ist stets ein fester Rahmen des begrenzten Raums, der begrenzt ablaufenden Zeit und der festgelegten Regeln vorausgesetzt. In dieser Dimension der Performanz also und in ihren je spezifischen Rahmungen hängt Größe nicht von Wahrheit ab, sondern von Richtigkeit auf dem höchsten Niveau, wie sie nur zu ermöglichen, aber nie ganz zu planen ist. Solche großen Momente gelingen oder scheitern – und setzen in seltenen Fällen alle vorausgehenden Erwartungen und Vorstellungen außer Kraft.
Große Sportler sind also vor allem – ja vielleicht ausschließlich – Körper, in deren Gegenwart eine neue Maßstäbe setzende Richtigkeit sich immer wieder ereignet. Mehr sollten wir ihnen keinesfalls abverlangen. Eben in diesem Sinn dürfen sie – als Sportlerinnen und Sportler – nicht mit Tugendbegriffen assoziiert und schon gar nicht nach ihnen beurteilt werden. In diesem Sinn auch können zwar ihr privates und ihr öffentliches Leben im Kontrast zum Glanz ihrer athletischen Leistungen stehen, aber diese nie wirklich beeinträchtigen. Und in diesem Sinn schließlich sollten wir Sportler nicht unter die Verpflichtung stellen, ihre Leistungen in einer Dimension zu „bestätigen“, die gar nicht kompatibel ist mit der ihnen eigenen Dimension der Performanz.
Die Kraft von Göttern wollen heute wohl nicht einmal die religiös Gebliebenen unter uns in den Leistungen der Athleten sehen. Manchmal aber inspirieren diese Leistungen eine Dankbarkeit, für die wir keinen Adressaten haben. Wenn einer Turnerin oder einem Sprinter eine Folge von Bewegungen gelingt, die unsere Vorstellungen vom Menschenmöglichen verändert, dann wird dieses Gelingen auch für sie selbst immer zu einem Geschenk, das nur teilweise zu ihnen selbst zurückführt. So ist unsere intransitive Dankbarkeit im Rückblick auf die großen Momente des Sports eine Dankbarkeit für das, was sich in solchen Momenten und für je einen Moment als ein wirklich gewordenes, zuvor unbekanntes Potential des Lebens zeigt.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: slagheap (flickr.com)
Bilder im Text: calciostreaming, James Marvin Phelps, Gideon (alle flickr.com)