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Seit 2009 leitet Prof. Dr. Marcell Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er an Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften.
Die Lage wird immer undurchsichtiger. Nachdem die Griechen in den Neuwahlen am Ende Januar die alten Regierungsparteien abgestraft hatten und danach auch überraschend schnell eine Regierungskoalition unter Führung der Syriza-Partei gebildet wurde, konnte man in der ersten Woche der neuen Regierung den Eindruck gewinnen, als könnte Alexis Tsipras seine beiden Hauptwahlversprechen einlösen: ein Ende der Sparpolitik und der Schuldenschnitt. In der zweiten Woche wendete sich dann jedoch das Blatt. Tsipras und sein Finanzminister Giannis Varoufakis mussten auf ihrer Rundreise durch Europa feststellen, dass sie mit ihren Vorstellungen nicht nur - wie zu erwarten - in Deutschland, sondern auch bei Regierungen anderer Euroländer wie Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, die sie zumindest teilweise auf ihrer Seite wähnten, auf taube Ohren stießen. Dass die EZB griechische Anleihen nicht mehr als Sicherheiten akzeptiert, passt in dieses Bild: Hat sich der Spieltheoretiker Varoufakis also verkalkuliert?
Schauen wir uns die maßgeblichen Spieler etwas näher an. Auf der einen Seite haben wir die Länder der Eurozone. Die Eurogruppe übt das Verhandlungsmandat für diese Länder aus. Die Historie der Eurokrise zeigt jedoch, dass die Interessen dieser Länder sehr unterschiedlich sein können. Dies erschwert eine interne Einigung, zudem wird kaum eine einheitliche Linie nach außen vertreten. Dies schwächt typischerweise die Verhandlungsposition der Eurogruppe und hat in der Vergangenheit die Krisendynamik in der Eurozone verstärkt.
Im vorliegenden Fall scheint dies jedoch anders zu sein. Die Länder lassen sich nicht auseinander dividieren, die Eurogruppe bleibt gegenüber Griechenland hart, ihre Verhandlungsposition wirkt stark. Zwei Sachverhalte kommen hier zusammen. Die zumindest schon teilweise vollzogene gemeinschaftliche Haftung von Schulden führt dazu, dass die Regierungen der Eurozone-Länder ihren Bürgern Forderungsausfälle erklären müssten, wenn Griechenland seine vertraglichen Verpflichtungen nicht einhält. Dies trifft die Bürger direkt, denn die meisten Forderungstitel gegenüber Griechenland sind inzwischen in öffentlichen Händen. Hinzu kommt, dass viele der Regierungen in ihren Ländern unter starkem Druck von Parteien und Bürgerinitiativen stehen, die ein Ende der Sparpolitik im eigenen Land fordern. Ein Nachgeben gegenüber Griechenland würde diese Kräfte zusätzlich stärken. Beide Effekte bewirken, dass das aus der Spieltheorie bekannte „common agency“-Problem, welches die Situation beschreibt, in der mehrere Auftraggeber (Prinzipale) mit potenziell unterschiedlichen Interessen einen Beauftragten (Agenten) in das Verhandlungsspiel mit der griechischen Regierung entsendet, relativ gut gelöst ist. Die Interessen der Länder sind harmonisiert.
Der maßgebliche Spieler auf der anderen Seite ist die neue griechische Regierung. Auch hier kann man ein „common agency“-Problem konstatieren. Die Regierung fungiert grundsätzlich als Beauftragter ihrer Bürger, insbesondere derjenigen, die diese Regierung gewählt haben. Das birgt im vorliegenden Fall beträchtlichen Sprengstoff. Denn die Wähler der Rechtspopulisten und der Syriza haben außer dem Feindbild Troika wenig gemeinsam. Die rechtspopulistische Parteispitze gehört in großen Teilen zum politischen und wirtschaftlichen Establishment in Griechenland, welches zu Recht für die Misere der Vergangenheit verantwortlich gemacht wird.
Zum zweiten ist keine generelle Solidarisierung in Griechenland zu beobachten, im Gegenteil: Die Interessensgegensätze scheinen sich verstärkt zu haben. Die Zunahme der Target-Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber dem Eurosystem um mehr als 54 Milliarden Euro ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Reflex einer massiven Kapitalflucht insbesondere griechischer Vermögensbesitzer aus dem eigenen Land. Zudem erschwert das historisch gewachsene, generelle Misstrauen der Griechen gegenüber ihrem Staat eine Interessensharmonisierung. Wenn Bevölkerungsteile zum Beispiel durch Kapitalflucht schon den „exit“ betreiben, wie soll dann die griechische Regierung glaubhaft Positionen in der Verhandlung vertreten können? Insgesamt betrachtet ist also das „common agency“-Problem im Falle Griechenlands nicht gelöst. Dies verringert die Verhandlungsmacht der griechischen Regierung und ist somit für den Stimmungsumschwung zu Lasten der griechischen Position verantwortlich: Tsipras und Varoufakis haben sich verkalkuliert.
Meine Prognose ist folgende: Griechenland wird den Verhandlungspoker verlieren. Dies wird auf mittlere Frist die griechische Regierung zu Fall bringen. Die griechische Schuldenproblematik wird damit jedoch nicht adäquat adressiert: Ohne massiven Schuldenschnitt kann es keinen Neuanfang geben, der gleichermaßen von strukturellen und institutionellen Reformen im Land begleitet sein muss. Diese beiden zentralen Komponenten einer dauerhaften Lösung werden aber gerade momentan verspielt. Ein „Grexit“ wird damit wahrscheinlicher.
Titelbild: Theophilos Papadopoulos / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text:Lorenzo Gaudenzi / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
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„GRSchuKrise“ von Alex1011 - Eigenes Werk. Lizenziert
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Artikel (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann