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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Antworten auf eine bestimmte Art von Fragen, bündige Fragen vor allem, wird ein Intellektueller, der auf sich hält, eher verweigern, denn das gehört zu seinem Selbstbild als Teil einer Lebensform. Genau so ging es mir, als vor einigen Sonntagen beim Abendessen mit der Familie die Frage aufkam, wer wohl die „größten Verbrecher des zwanzigsten Jahrhunderts“ (und der Weltgeschichte überhaupt) gewesen seien. Man verweist in solchen Situationen gerne – und eigentlich banalerweise – darauf, dass mögliche Antworten von den je zugrunde gelegten Kriterien, Werten oder Perspektiven abhängen und drückt sich so um ein Urteil, dessen eigentlicher Anlass ja gerade (und immer) solche Fragen oder Phänomene mit höheren Komplexitäts-Anforderungen sind. Im speziellen Fall der Frage nach den größten Verbrechern der jüngeren und fernen Vergangenheit lässt sich dann außerdem mit einem selbstzufriedenen Hauch moralischer Herablassung anmerken, dass schon der Gebrauch eines Begriffs wie „Verbrecher“ problematische (und deshalb mindestens der Offenlegung bedürftige, man sagt auch gerne „substanzialistische“) Voraussetzungen impliziere – und schließt dann mit dem bequemsten aller intellektuellen Gemeinplätze, nach dem ohnehin „alles relativ“ sein soll.
Doch die Frage faszinierte mich mehr, als ich zugeben wollte – eigenartigerweise wohl deshalb, weil schon vor allem Nachdenken und allen Relativierungs-Impulsen feststand, dass die Antwort „Hitler und Stalin – und zwar in dieser Reihenfolge“ heißen musste, ohne dass sich irgendwelche Alternativen einstellten. Ergiebiger für das Abend-Gespräch waren aber zunächst chronologisch weit ausschweifende Assoziationen, die zu flamboyanteren, weil zumindest in Teilaspekten ambivalenten und auch deutlicher pathologisch scheinenden Protagonisten des Übels führen (falls man nicht in jener Engführung von Hoch-Moral und Logik, welche durchaus zersetzende Konsequenzen für die Rechtssysteme der Neuzeit gehabt hat, alle „Verbrechen“ als Symptome für – Bestrafung aussetzende – „Pathologien“ ansehen will). Typen wie der römische Kaiser Nero oder Heinrich VIII. von England finden Resonanz in jenen Schichten der Imagination, die erklären, warum Dantes „Inferno“ literarisch so unvergleichlich eindrucksvoller ist als sein „Paradiso“ oder das (übrigens erst von Dante auf Begriffe und Bilder gebrachte) „Fegefeuer“. Heinrich VIII. zumal gilt vielen Historikern als einer der großen Monarchen aus der englischen Geschichte, und auch der junge Nero hatte nach seinem Regierungsantritt im Alter von siebzehn Jahren einige für die Ausdehnung des römischen Reichs und für die Konsolidierung des Imperiums als Regierungsform erstaunlich erfolgreiche Entscheidungen getroffen.
Sprichwörtlich sind Nero und Heinrich VIII. freilich geworden, weil sie eine Energie des Verbrechens zu verkörpern scheinen, die aus persönlicher Leidenschaft entstand und über die ihre Berater wie ihre eigene Vernunft mit immer blutigeren Konsequenzen die Kontrolle verloren. Dass grenzenlose sexuelle Begierde in beiden Fällen die treibende Passion war, dass die meisten Opfer Neros und Heinrichs deshalb individuelle Opfer waren und dass sie beide am Ende ihres Lebens von den (politischen und physischen) Folgen ihrer Maßlosigkeit eingeholt wurden (was wie die Andeutung einer aus der Transzendenz kommenden moralischen Bestrafung wirkt), dies alles hat sie zu ikonischen Gestalten der – stets Literatur-trächtigen – Individualität des Verbrechens gemacht.
Wenn mit Adolf Hitler und Josef Stalin Protagonisten eines ganz anderen psychischen Zuschnitts unsere Imagination des jüngst vergangenen Verbrechens beherrschen, so bestätigt sich darin die in wachsender chronologischer Distanz zur Gewissheit werdende Identifikation des zwanzigsten Jahrhunderts als „Zeitalter der Ideologien“. Seine Vorgeschichte kann man in einer knappen Sequenz von Tatsachen zusammenfassen. Da die Zeit um 1900 jenen historischen Einschnitt markiert, wo die christliche Religion in ihren verschiedenen Ausprägungen als kollektiv vorausgesetzter Rahmen des Alltags kollabiert war und wo zugleich die Philosophie ihre seit der Aufklärung anhaltende Bemühung aufgab, die Möglichkeit einer objektiven Welterfassung durch die menschliche Kognition zu erweisen, führte der von den Besiegten so sehr wie von seinen Siegern als existentielle Katastrophe erlebte Weltkrieg zu einer Sehnsucht nach neuen, bündigen Orientierungssystemen, die sich vielfach und explizit in der Hoffnung auf „neue Mythen“ artikulierte.
Erst diese Sehnsucht ließ während zwanziger Jahre – zuerst in Italien und bald auch in anderen Ländern Europas – den Faschismus entstehen und gab dem schon früher als politisches Gedankensystem entwickelten Kommunismus den Status einer „Ideologie“. Im Gegensatz zu „Weltanschauungen“ betonten Ideologien ihren absolute Kohärenz- und ihren unbegrenzten Gültigkeits-Anspruch als Systeme der Welterklärung, welche auf binären begrifflichen Unterscheidungen beruhten und diese Unterscheidungen mit extremen Wertkontrasten aufluden. Entscheidend war dabei, dass etwa die Kontraste zwischen der „jüdischen“ und der „arischen Rasse“ oder zwischen dem „Proletariat“ und der „Bourgeoisie“ nicht beim Typologischen stehenblieben, sondern aufgrund ihrer moralischen Wert-Aufladung eine Verpflichtung zur „Säuberung“ der Welt vom jeweiligen Gegenprinzip enthielt – und mithin auch eine moralische Legitimation für alle Akte von Gewalt gegen die Verkörperungen der Gegenprinzipien.
Adolf Hitler und Josef Stalin inszenierten sich als Agenten dieses Moralismus, mit verschiedenen Intensitätsgraden vielleicht und mit dem einen – eher theoretischen als praktisch relevanten – Unterschied, dass im Kommunismus eine „Konversion“ von der dem Proletariat feindlichen Klasse als prinzipiell möglich galt, während die Logik des Nazismus alle Distanznahmen vom Status der „nicht lebenswerten“ Rassen oder Lebensformen ausschloss. In der Verkörperung solcher jeweils zentralen Werte wollten Hitler und Stalin asketisch wirken, ausschließlich auf ihre eine, zugleich transzendentale und in der Mitte des Volkes stehende Rolle als „Führer“ konzentriert. Dies war der Grund, warum sie alle nicht-asketischen Aspekte ihres Privatlebens vor der Öffentlichkeit abschotten ließen (allein das Vegetariertum und die Tierliebe Hitlers wurden betont). Heute wissen wir, dass alle Gerüchte von wild ausschweifenden Lastern im Leben von Stalin und Hitler Projektionen einer Phantasie waren, die eigentlich zum Typus des durch persönliche Leidenschaften angetriebenen Verbrechers (im Stil von Nero und Heinrich VIII.) gehörten. In ihrer alltäglichen Wirklichkeit waren die Privatsphären der führenden Menschen-Monster des zwanzigsten Jahrhunderts erschütternd banal: Stalins und Hitlers erotische Beziehungen zogen sich ohne dramatische Steigerungen hin, und sie waren beide fasziniert von zeitgenössischen amerikanischen Filmproduktionen, die sie ihren Volks- und Klassen-Genossen natürlich vorenthielten: Stalin von Chaplin-Komödien und frühen Western, Hitler von den ersten Trickfilmen des Faschismus-Sympathisanten Walt Disney (ein Gespräch zwischen Adolf Hitler und Heinrich Himmler über den „tragischen Tod“ von Bambis Mutter gehört zu meinen obsessiven Tagträumen).
Die Zahl der Opfer von Verbrechern dieses im zwanzigsten Jahrhundert dominierenden Typus war so unvergleichlich hoch, weil sie sich aus dem neuen Dispositiv einer Industrialisierung des Tötens ergab, das durch die jeweils neuesten technischen Möglichkeiten potenziert wurde (die „Gaskammern“ der deutschen Konzentrationslager waren Ergebnis eines langen „Entwicklungsprozesses“, in dem auch ökologische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle spielten). Es passte zum Bild der persönlichen Askese und Hygiene, dass die Diktatoren sich – von wenigen individuellen Ausnahmen abgesehen – auf Distanz von den Szenen körperlicher Grausamkeit hielten. Umgekehrt und retrospektiv ist es aus demselben Grund so schwierig (oder tatsächlich unmöglich), Schätzungen der Opfer-Zahlen in halbwegs präzise Angaben zu überführen (im Falle Stalins schwanken sie zwischen drei Millionen und sechzig Millionen). Denn aufgrund ihrer Distanz zu individuellen Szenen des Verbrechens kann bis heute jede Katastrophe, die sich während der Regierungszeiten von Stalin oder Hitler ereignete, als ein verdecktes Dispositiv in der Logik zur Eliminierung nicht lebenswerten Lebens gedeutet werden: möglicherweise ließ Stalins Regierung Missernten der frühen dreißiger Jahre zu Hungersnöten werden, um die Zwangskollektivierung der Bauern voranzutreiben, und vielleicht war der deutsche „Volkssturm“ am Ende des Zweiten Weltkriegs ein Versuch, schließlich auch die deutsche Rasse auszulöschen, weil sie die auf physische „Überlegenheit“ gesetzten Hoffnungen ihres „Führers“ enttäuscht hatte.
Strukturell gesehen waren die Herrschaft von Mao-Tse Tung über China und von Pol Pot über Kambodscha späte Varianten desselben Modells – mit einer signifikanten Variante. Sowohl Mao-Tse Tung wie Pol Pot stellten an bestimmten Momenten ihrer Karriere die Industrialisierung des Tötens auf einen von ihnen nur noch ausgelösten, aber demonstrativ nicht mehr kontrollierten autopoetischen Prozess um, indem sie die Macht und die Gewalt der inneren „Reinigungen“ an „Rote Garden“ (in China) und an die Volksmiliz der „Roten Khmer“ (in Kambodscha) übertrugen. Dadurch gewannen sie eine Aura pseudo-demokratischer Legitimität, setzen millionenfache Energie persönlicher Grausamkeit frei und trieben die Zahlen der Opfer selbst über das Maß von Hitler und Stalin hinaus. Konstant aber blieben die Verankerung des Tötens in der Logik einer binären Moral und die asketische Selbststilisierung der führenden Verbrecher.
Trotz ihres emblematischen Status für das zwanzigste Jahrhundert hatten Adolf Hitler und Josef Stalin natürlich auch ihre historischen Vorgänger. Der blaulippig „tugendreiche“ und „unbestechliche“ Maximilien de Robespierre, der sich in der frühen Phase der Französischen Revolution für die Abschaffung der Todesstrafe engagiert hatte und bei einem Schreiner in Untermiete wohnte, als er wenige Jahre später mit seinen politischen Strategien die Guillotine-Dynamik des seriellen Tötens von allen Restriktionen durch das Rechtssystem freisetzte – und an die kollektiven Impulse der unterprivilegierten Sansculotten delegierte, der blaulippige Robespierre ist wohl der prominenteste unter ihnen. Dass er dem Willen eines Gotts der Vernunft und der Tugend zur Realisierung verhelfen wollte, stand für Robespierre ebenso außer Frage wie mehr als dreitausend Jahre zuvor für den Pharao Echnaton, der alle an „die alten Götter“ erinnernden Zeichen und Inschriften ausmeißeln ließ, um sein Reich allein dem einen liebenden Sonnengott zu weihen.
Zum Glück sind für uns Zeitgenossen des fortschreitenden einundzwanzigsten Jahrhunderts – beinahe global anscheinend – schon die bloße Vorstellung und Erinnerung schwer nachvollziehbar geworden, dass noch vor wenigen Jahrzehnten Verbrecher wie Hitler oder Stalin, Mao-Tse Tung oder Pol Pot im Namen ihrer Moralsysteme eine ekstatische Begierde der Gefolgschaft freisetzen konnten. Berechtigt uns diese affektive Distanz zu der Hoffnung, dass wir für immer gegen diese Begierde immunisiert sind? Sollte die Hoffnung je in Gewissheit umschlagen, dann wäre sie naiv und gefährlich. Fürs erste allerdings scheint der gefährliche Rückfall von einer eigenartigen strukturellen Umkehrung blockiert. Moralistische Prinzipienreiterei ist heute – mehr denn je vielleicht – zu einer individuellen Leidenschaft geworden. Und solange die fundamentalen Werte der Individuen in hinreichend viele zentrifugale Richtungen streben, neutralisieren sie sich wechselseitig.
Titelbild: martin / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Bilder im Text: „Bundesarchiv Bild 146-1990-048-29A, Adolf Hitler retouched“ von Bundesarchiv, Bild 146-1990-048-29A / CC-BY-SA. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons.
„Bundesarchiv Bild 183-R80329, Josef Stalin“ von Bundesarchiv, Bild 183-R80329 / CC-BY-SA. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons.
„Berlin en 1947 (6328971517)“ von dalbera from Paris, France - Berlin en 1947 - Uploaded by russavia. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
David Dennis / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann