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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Wie es inzwischen typisch für Barack Obamas öffentliche Reflexionen geworden ist, stand im Vordergrund seines Rück- und Vorausblicks ein Ziel, das er verfehlt hat. Während er als Abgeordneter in Illinois gerade durch von Demokraten und Republikanern gemeinsam getragene Projekte persönliches Prestige gewonnen hatte, ist die Unversöhnlichkeit zwischen den beiden Parteien seit 2009 ohne Zweifel gestiegen. Doch hinter Obamas selbstkritischer Geste verbarg sich eine genau adressierte Provokation der republikanischen Senatoren, zu denen auch einige Bewerber um seine Nachfolge in der Präsidentschaft gehören.
Kaum jemand, der in der Vereinigten Staaten lebt, würde – wie so viele europäische Beobachter – behaupten, dass die amerikanische Nation als Gesellschaft heute stärker und schmerzvoller gespalten ist als beim Amtsantritt des Präsidenten. Im Gegenteil, gerade weil sich in der Sicht der meisten Bürger die wirtschaftliche und die außenpolitische Situation deutlich verbessert haben, gerade weil zahlreiche Leistungen der Obama-Regierung von breiten, sozial und ethnisch ganz verschiedenen Mehrheiten begrüßt werden und gerade weil den Republikanern deshalb oft die politischen Gegenargumente und plausiblen Alternativen fehlen, können sie ihre Positionen allein durch bedingungslose Aktivierung von Ressentiments markieren und verteidigen. Die radikalste Version dieser Formel macht Donald Trumps Erfolg aus – und hat ihn von allem für seine eigene Partei zu einem Problem gemacht. Darauf spielte die Senatsrede des Präsidenten an – und ließ so Obamas Selbstkritik zu einer Anklage seiner Gegner werden (was wiederum erklärt, warum Trump – offenbar etwas nervös – schon vor dem Ende der Rede seinen Fans twitterte, Obama sei „langweilig“ und ihrer Aufmerksamkeit nicht wert).
Freilich ginge es zu weit, Trump als Symptom für Obamas Erfolg zu deuten. Dass er ein ernstzunehmender Präsidentschafts-Kandidat geworden ist (und damit weltweit ein politisches Katastrophenszenario heraufbeschwören kann), hat auch mit der Unfähigkeit – oder dem Desinteresse – Obamas zu tun, seine Handlungen von den Perspektiven der jeweils nächsten Wahl abhängig zu machen und so in innenpolitisches Kapital umzumünzen. Die Konsequenzen dieser so oft versprochenen und so selten realisierten Einstellung setzten schon bald nach dem Beginn von Obamas Präsidentschaft ein – und konvergierten mit der weltweiten Enttäuschung jenes singulären Enthusiasmus, den sein Wahlkampf geweckt hatte. Mit einem Mal war das unter George W. Bush im internationalen Ansehen gleichsam zum „Schurkenstaat“ abgestiegene Amerika wieder zu einem weltweite Hoffnungen inspirierenden „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ geworden. Obamas Reden hatten historische Erinnerungen an Figuren wie Lincoln, Roosevelt oder Kennedy geweckt, und sein Slogan „Yes we can!“ verdrängte zum letzten Mal eine wachsende Skepsis gegenüber der notwendigen Prämisse aller demokratischen Politik, nach der es möglich sein muss, Zukunft als Verwirklichung kollektiver Bedürfnisse und Hoffnungen zu gestalten. In jenem strahlenden Barack Obama hatte alle Welt das Versprechen der je eigenen Träume sehen wollen. Nichts macht rückblickend dieses vielfältige Missverständnis deutlicher – und nichts hat Obamas Prestige weltweit früher und nachhaltiger geschadet – als die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn als Befehlshaber der unangefochten stärksten Militärmacht der Welt.
Denn als der hochgestimmte Wahlkämpfer innerhalb weniger Monate – ganz im Sinn einer damals fast vergessenen amerikanischen Tradition – zu einem pragmatischen, das heißt auf realistische Problemlösungen konzentrierten Politiker wurde, verlosch seine globale Aura, und vor allem die ja immer mehr von Diskursen als von Leistungen beeindruckten Intellektuellen im Land begannen, ihn als Verräter zu identifizieren. Hinter einem Präsidenten, der als praktisch erfahrener und wissenschaftlich ausgewiesener Jurist die Möglichkeitsspielräume seiner Politik ebenso genau wie geduldig auslotete, verschwand bald die Erlösergestalt des Wahlkampfs. Aus diesem plötzlichen Schatten ist das Bild von Barack Obama nie mehr herausgetreten.
Der Schatten hat sich auch deshalb über seine entscheidenden Leistungen gelegt, weil sie alle nur Bewegungen des Wandels initiiert und ermöglicht haben, ohne sie zu unumkehrbaren Wirklichkeiten zu machen. Paradigmatisch ist hier die staatliche Reform der Krankenversicherung, welche unter dem Namen „Obamacare“ eines Tages emblematisch für die Erinnerung an diesen Präsidenten werden könnte. Was für jeden seiner Vorgänger seit dem frühen 20. Jahrhundert ein aufgeschobenes Projekt geblieben war, ist unter Obama zu einer – noch prekären – Realität geworden: Trotz aller nationalspezifisch weiterlebenden Widerstände gegen Interventionen des Staats in die Privatsphäre sind einkommensschwache amerikanische Bürger heute für ihre Krankenversorgung pflichtversichert. Die Gegner dieser Reform aber haben bis heute eine Diskussion über ihre angeblich exorbitanten Kosten, ja über ihr sozialpolitisches Scheitern geschürt. Und manche Krankenhäuser ergänzen jede ihrer – nun durch gesetzliche Vorschriften limitierten – Rechnungen durch Angaben über die angeblich weit höheren “objektiven” Kosten.
Die Ergebnisse der Gesundheitsreform werden also gewiss noch mehrere politische Anläufe zu ihrer Aufhebung überleben müssen – oder an ihnen scheitern. Das gilt auch für die gegen den Widerstand verschiedener religiöser Orthodoxien durchgesetzte Homosexuellen-Ehe. In diesem Fall war es Obamas fast paradoxale Unsichtbarkeitsstrategie gewesen, als Präsident deutliche Worte der Unterstützung zu vermeiden, weil sie möglicherweise mehr Widerstand aktiviert als Konsensus herbeigeführt hätten. Entscheidend wurde dann die von ihm langfristig in die Wege geleitete Unterstützung des Obersten Gerichtshofs, der seine Autorität als Instanz der Verfassungsauslegung nutzte, um die Blockierung der Homosexuellen-Ehe in einer großen Zahl von Bundesstaaten zu brechen. In anderen Kontexten hat der Präsident seit jeher verfahrene Problemkonstellationen über von Krisenmomenten ausgelöste Diskussionen in Bewegung gebracht. Erst in der jüngsten amerikanischen Gegenwart zum Beispiel ist – in Reaktion auf eine Reihe von rassistisch motivierten Kollektivmorden – eine Veränderung der aus der Welt des Unabhängigkeitskriegs kommenden Gesetze über privaten Waffenbesitz vorstellbar geworden. Unter Obama erst hat eine politische Debatte zu der längst anstehende Reform der Funktion und der Form von Gefängnissen eingesetzt. Dass er schließlich staatlich gestützte und oft tatsächlich problematische Privilegien von Jugendlichen aus Minderheitsgruppen in den Erziehungsinstitutionen kritisierte, haben dem Präsidenten – noch einmal – vor allem die Intellektuellen des Landes übelgenommen.
Doch auch diese Initiative gehört zum Stil von Barack Obamas pragmatischer Politik. Kein Präsident der weißen Mehrheit hätte ein solch langfristig unvermeidliches Thema auf die politische Tagesordnung bringen können, ohne intensive innenpolitische Proteste vom Zaun zu brechen. Hier artikuliert sich deutlich und entscheidend jene Dialektik, die zugleich erklärt, warum der unsichtbare Obama seine frühen Anhänger enttäuscht hat – und bereits heute als ein wichtiger Präsident der Vereinigten Staaten gelten kann. Er hat seine Politik im Rahmen des gesetzlich Möglichen entfaltet, statt an Visionen zu hängen; er hat lange unmöglich erscheinende Veränderungen initiiert, statt an ihrer Vollendung zu scheitern – und er hat ganz in diesem Sinne zwei Legislaturperioden genutzt, um seine Nation und die Welt erleben zu lassen, dass der erste afro-amerikanische Präsident die positiven Kontinuitäten eines sozial und kulturell so heterogenen Landes stärken musste und stärken konnte, statt sich als Verkörperung einer Minderheit zu inszenieren. Gerade dass Obama – in seinen Reaktionen auf eine Vielzahl von Problemsituationen eher als mit großen Reden – auch zum Präsidenten der weißen Mehrheit und sogar zum Präsidenten vieler Amerikaner aus der reichen Minderheit geworden ist, macht sein historisches Profil aus.
Bei aller Abhängigkeit von nicht prognostizierbaren globalen Entwicklungen ist auch die amerikanische Ökonomie über die vergangenen sieben Jahre in eine positive Bewegung eingetreten, mit der sie sich wieder der Rolle genähert hat, Stimulus für die Weltwirtschaft zu sein. Schwieriger – und ambivalenter – mag die Einschätzung von Obamas Rolle in der internationalen Politik ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit ausfallen. Das Versprechen, die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten im Irak und in Afghanistan zu beenden, hat er – wenn auch nicht so kurzfristig wie von vielen erwartet – in vollem Maß erfüllt. Aus diesem Rückzug jedoch haben sich keinesfalls die Konturen einer neuen, für andere Nationen akzeptablen Führungsrolle ergeben. Dass Osama bin Laden zehn Jahre nach dem 11. September 2001 durch einen amerikanischen Militäreinsatz getötet wurde, hat innenpolitisch vor allem als beruhigendes Zeichen der eigenen Stärke gewirkt – und in Europa als Symptom eines dramatischen Kontrasts zwischen den je dominanten moralischen Werten. Und während sich schließlich die prekäre Beziehung zwischen verschiedenen politischen Bewegungen des Islam und der westlichen Welt bestenfalls bloß verändert, aber nicht entspannt hat, sind die Verhandlungen der Vereinigten Staaten mit dem Iran und mit Kuba hinreichend in Bewegung geraten, um auch hier eine positive Entwicklung in der Zukunft wieder vorstellbar zu machen.
Mit einem amerikanischen Pass zu reisen, ist inzwischen wieder das geworden, was es seit 1917, seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den ersten Weltkrieg, gewesen sein muss. Die Sympathie für die Bürger einer Nation, die als dominant gilt, wird immer in Grenzen bleiben – doch die irritiert-aggressiven Fragen über den Stand dieser Nation setzen heute nicht mehr bei den Grenzbeamten ein, wie wir es zwischen 2001 und 2009 erlebt haben. Auch diese Entwicklung gehört zu den spürbar positiven Konsequenzen der Obama-Jahre, ohne heute schon unumkehrbar zu sein. Sollten aus einigen oder gar aus den meisten dieser Bewegungen Kontinuitäten entstehen, dann wird der Name des heute in seinem eigenen Schatten stehenden Barack Obama eines Tages neben den Namen jener großen Vorgänger leuchten, mit denen er sich – in einer eigentümlichen Nuance des Widerspruchs zu seiner politischen Unsichtbarkeit – schon immer so gerne verglichen hat.
Der Gastbeitrag ist am 19.01.2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Präsident im Schatten“ erschienen.
Titelbild:
| Beth Rankin / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text:
| "Ann Dunham with father and children" by Source. Licensed under Fair use via Wikipedia.
| "US President Barack Obama taking his Oath of Office" - 20. Jan 2009 by Master Sgt. Cecilio Ricardo, U.S. Air Force - Licensed under Public Domain via Commons.
| „Obama and Biden await updates on bin Laden“ von Pete Souza - White House Flickr Feed. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
| „Barack Obama family portrait 2011“ von Pete Souza - Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm