ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es gehört zum Verhaltensrepertoire – und wohl auch zum Aufklärungserbe – jener durchaus gebildeten „Mittelschicht“, die sich in vielen verschiedenen „bürgerlichen“ Berufen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts global etabliert hat („global“ heißt heute vor allem, an die Kanäle elektronischer Kommunikation angeschlossen zu sein), es gehört zum konventionellen Ton der Mittelschicht, jeden Blick auf die eigene Lebensform mit der gutgemeinten Reaktion zu justieren, dass sie (natürlich) nicht von allen Menschen geteilt wird und vielen von ihnen nicht einmal zugänglich ist. Erst dieser Habitus der Selbstrelativierung aber macht die Frage lohnend (weil ungewöhnlich), was an den Lebensformen der Mittelschicht als historisch spezifisch gelten kann.
Bei der dann einschlägigen Pflichtlektüre sozialutopischer Texte aus entfernteren westlichen Vergangenheiten entsteht schnell der Eindruck, dass die Existenz der Studienrätin aus Luzern, des Softwareingenieurs in Madras, des Oberarztes aus São Paulo und der Rechtsanwältin in Oslo mittlerweile zahlreiche (wenn nicht gar alle) jener Vorstellungen erfüllt, welche frühere Jahrhunderte mit ihren Vorstellungen von einem guten oder gar idealen Leben verbanden. Wir Mittelständler existieren – trotz aller regionalen Differenzen – in einer Kombination von sozialer Sicherheit und finanzieller Opulenz, die zum selbstverständlichen Standard des Alltags geworden ist, obwohl sie unseren Ur-Großeltern noch wie eine reine Wunschvorstellung vorgekommen wäre. Gegen jegliche Arten von Unfällen hat man uns versichert – in vielen Ländern staatlich und also ohne risikohaltige Alternative; die Kontinuität des einmal erreichten Wohlstandsniveaus zwischen dem Ende der aktiven Berufsjahre und dem immer späteren Tod gilt ebenso garantiert wie ein offener Zugang zu Wissen und Bildung; individuelle und militärische Gewalt scheinen an die Peripherien oder gar Außenseiten unseres Lebens verbannt zu sein – und vor allem hat sich für viele von uns ein Gleichgewicht zwischen Wünschen und finanziellen Möglichkeiten eingependelt: Beinahe alles, was wir uns vorstellen können, vom Konzertbesuch über den Skiurlaub bis zum nächsten (umweltfreundlichen) Auto, kann kurz- oder mittelfristig Wirklichkeit werden – nur selten muss man noch bis zum Geburtstag oder auf Weihnachten warten.
Geradezu „klassenlos“ – im Sinn der Lieblingsutopie von Karl Marx – wirkt dieser realutopische Zustand, sobald wir uns klar machen, dass die Träume vom guten Leben unter jenen Zeitgenossen, deren Einkommen unendlich höher sind als unsere eigenen, kaum anders aussehen als die Mittelstandswünsche. Diese Konvergenz widerspricht offenbar nicht einer sich beschleunigenden Divergenzentwicklung der finanziellen Möglichkeiten – das jedenfalls ist der tröstliche und potentiell Ressentiment-absorbierende Schluss, den ich ziehe, wenn ich ab und zu an dem überraschend „normalen“ Haus von Mark Zuckerberg vorbeifahre – dessen Mobiliar, wie eine Fotoreportage neulich deutlich machte, jedes Vorurteil über den mangelnden Inneneinrichtungsgeschmack meiner amerikanischen Landsleute bestätigt – oder wenn mir auffällt, dass sich einige der Originalkunstwerke an den Wänden einer Milliardärsvilla in den gerahmten Ausstellungsplakaten an meinen eigenen Wänden wiederholen.
Vielleicht leben wir gerade aufgrund dieser überraschenden „Gleichheit“ unser Mittelstandsleben mit so permanent schlechtem Gewissen. Das könnte erklären, warum – zumal in Deutschland – das Wort „Ethik“ eine so obsessive Präsenz in den Gesprächen erobert hat. Denn wir halten es für eine „ethische“ Verpflichtung, alle Menschen an dieser Realutopie teilhaben zu lassen (wenn sich der Impuls nur immer realisieren ließe): Langfristig arbeitslose Mitbürger ebenso wie Migranten, afghanische Bauern nicht anders als Taxifahrer aus dem Libanon sollen leben dürfen wie wir. Und dank der Konvergenz von guten Wünschen und großzügigen Initiativen empfindet die Nation einen (ganz berechtigten) Stolz auf ihren Status als „Spenden-Weltmeister“.
Derart wenig an sich selbst und an die Mehrung des eigenen Wohls zu denken, gilt aus guten Gründen als ethisch lobenswert. Doch hinter dem Verzicht stehen wohl noch zwei andere, weniger anspruchsvolle – wenn auch gewiss nicht ehrenrührige – Motive. Zum einen ist es offenbar schon immer schwer gewesen, die Bilder vom guten Leben anders auszumalen als mit dem Schwinden oder der Absenz dessen, was uns beschwert oder entfremdet – und solche Lücken geben natürlich nicht viel her für die Imagination. Vielleicht hat diese Blässe der Wunschvorstellungen zum Scheitern von Sozialismus und Kommunismus beigetragen. Zugleich und vor allem aber hat ausgerechnet der Kapitalismus für jene globale Mittelklasse viele (wenn auch nicht alle) Wünsche von einem nicht-entfremdeten Leben Wirklichkeit werden lassen, so dass ihr – im wörtlichen Sinn – nicht mehr viel zu wünschen übrig bleibt. Interessant ist bloß noch die Frage, ob wachsende finanzielle Ungleichheit der – psychisch offenbar nur schwer zu ertragende – Preis für das Ende der Entfremdung ist.
Die Richtung dieser Überlegung entspricht dem Endpunkt einer Reflexion des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève aus den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wenn alle Ziele und Wünsche nach einem Leben ohne Entfremdung erfüllt sind, schrieb Kojève, dann muss – nach einer Logik im Stil von Hegels Denken – die Geschichte an ihr Ende gelangt sein, und wir Menschen können uns erlauben, in einen Zustand animalischer Wohligkeit zurückzufallen (oder zu einem solchen Endzustand fortschreiten). Was hat bisher verhindert, dass es so weit gekommen ist? Gewiss die Urkräfte des von finanzieller Ungleichheit ausgelösten Neids und Ressentiments – wir wollen den Kapitalismus nicht einfach seinen Lauf nehmen lassen, selbst wenn wir wüssten, dass er gut für uns ist –, aber hinzu kommt als Vorbehalt gegen das Ende der Geschichte die Ahnung, dass entgegen Kojèves dunkel-pessimistischem Optimismus eben doch noch etwas für den Mittelstand zu wünschen übrig bleibt.
Möglicherweise haben wir für kollektive Utopien tatsächlich keinen Platz mehr – doch in der Dimension der Individualität entfalten heute Träume von einer Existenz in Intensität größere Energie als je zuvor. Allerdings sind dieses Gefühl und der Begriff von „Intensität“ nur schwer zu fassen. Sie haben nichts zu tun mit jenen traditionell paradiesischen Bildern von dem schönen Anderen, das uns fehlte – Bilder vom Schlaraffenland zum Beispiel oder von der Heiterkeit bukolischer Landschaften. Intensität ist zunächst nichts als eine existentielle Steigerung des schon bekannten Angenehmen oder Unangenehmen – wenn wir etwa von der Intensität eines Schmerzes oder eines Genussmoments sprechen. Darüber hinaus gehört zur Lebensintensität aber auch eine Euphorie des Gelingens, welche ihrerseits ohne ein Risiko des Scheiterns nicht erlebt werden kann.
Und genau nach dieser Möglichkeit des Scheiterns sehnen wir uns in vermeintlich paradoxaler Weise – eben weil wir umgeben sind von den Versprechungen und Garantien eines gesicherten guten Lebens. Die Sehnsucht hat eine Industrie der Erlebnismomente heraufbeschworen, die wir als funktionales Äquivalent der klassischen Breitwandutopien in unserer Gegenwart identifizieren können: Extremsportarten als Erlebnis – entlang reißender Bergbäche, steiler Abfahrten und schier endloser Marathonstrecken, immer ausgerüstet mit kompakten Apparaten der Hochtechnologie, die dem Umschlagen von Krisenereignissen in den Tod vorbeugen sollen (vielleicht ließe sich eines Tages der Spielraum solcher Erlebnismöglichkeiten sogar um freiwillige „Risiko-Chirurgie“ erweitern). Zuschauersport ist die um einen kategorialen Grad herabgesetzte Variante der Inszenierungsform von Intensität. Wir verfolgen – mit sprichwörtlich pochenden Herzen –, wie sich Athleten dem Risiko des Scheiterns aussetzen und es in den verschiedensten Ereignissen des Gelingens immer wieder einzuklammern vermögen (aber nie endgültig besiegen). Hier mag auch eine Erklärung für die Emergenz und die immer weiter wachsende Faszination jener kulturellen Symptome liegen, die der französiche Denker Guy Debord schon vor Jahrzehnten unter dem Begriff der „Spektakel-Gesellschaft“ zusammenfasste. Wir sind Zuschauer eines Lebens, das wir uns wünschen, ohne seine Risiken akzeptieren zu wollen.
Freilich wenden sich die Angebote der Spektakel-Gesellschaft ausschließlich an Individuen. Ließe sich auch ein kollektives Intensitätsszenario vorstellen? Die erste Antwort auf diese Frage ist banal, weil sie eine Möglichkeit ins Spiel bringt, vor der glücklicherweise ein zentrales Tabu unserer Gegenwart steht. Ich beziehe mich auf den Krieg, wie ihn zumal die westliche Kultur bis vor einem Jahrhundert immer wieder als Existenzform der Intensität beschrieben (und gefeiert) hat. Aber gibt es heute – nachdem jede Aura militärischen Heldentums verschwunden ist – nicht doch immer neue Beispiele für das Annehmen, ja für das Herausfordern kollektiver Risiken als Intensitätsinkubatoren? Bei den amerikanischen Vorwahlen etwa entstehen regelmäßig überraschende Dynamiken, die das noch nie Dagewesene, ja das Unwahrscheinliche an sich zum Ereignis werden lassen wollen (einen ersten afro-amerikanischen Präsidenten will man wählen, die erste Frau in das selbe Amt – aber auch einen von allen guten Geistern verlassenen Milliardär, der schon verschiedene private Pleiten hinter sich hat).
„Amerikanische Zustände sind das eben“, mag man in Europa allzu automatisch kommentieren – ohne sich zu fragen, ob nicht vielleicht auch die deutsche Migrantenpolitik so erstaunlich positive Resonanz bei der Bevölkerungsmehrheit fand, weil sie das intensitätssteigernde Risiko eines – nun kollektiven – Scheiterns und damit die Chance eines kollektiven Gelingens eröffnet. Und ist das Land nicht über seinen neuen realen Problemen plötzlich aufgewacht?
Titelbild:
| marc-hatot / pixabay.com (CC0 Public Domain)
Bilder im Text:
| geralt / pixabay.com (CC0 Public Domain)
| Pierre Wolfer / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
| AdinaVoicu / pixabay.com (CC0 Public Domain)
| Angeloux / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm