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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen. Den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse hatte zuvor PD Dr. Alexander Ruser erfolgreich vertreten.
Zur Beschreibung dessen, was anders wurde, möchte ich eine einfache Formel vorschlagen, nämlich „Zuhandenheit von Information“. Den Anstoß zu dieser Formel verdanke ich Hans Ulrich Gumbrecht, der Steve Jobs´ Arbeitsprinzip einmal als „Entfaltung der Zuhandenheits-Potentiale von Computern“ beschrieben hat. Das heißt zunächst, dass Jobs Computer dem menschlichen Körper und den menschlichen Körper den Computern andiente. „Zuhandenheit“ ist dabei ein Begriff von Martin Heidegger, den er als Gegensatz zur „Vorhandenheit“ verwendet. Den Unterschied versteht man am leichtesten, wenn man sich die zwei Arten vor Augen führt, wie man Dinge begreifen kann – nämlich einmal metaphorisch, indem man sie versteht, und einmal wörtlich, indem man mit ihnen zu hantieren lernt. Vorhandenes begreift man durchs Betrachten und Auslegen, Zuhandenes begreift man durchs in die Hand nehmen. Vorhanden ist ein Hammer in der Werkzeugkiste, von dem man versteht, wofür er da ist. Zuhanden ist er, wenn er in der Hand liegt und in der Bewegung des Nagelns mit der geübten Bewegung verwächst.
Computer sind nun Informationsmaschinen, und Zuhandenheit ist scheinbar ein unangemessener Umgang mit Information, denn sie braucht verstehendes, nicht hantierendes Begreifen. So war es zumindest vor dem iPhone: Da waren Zuhandenheit und Information noch Gegensätze. Nun sind sie es nicht mehr. Alles ist anders.
Auf den Smartphones lässt sich Information mit den Fingern antippen und wegwischen, auseinanderziehen und zusammenschieben – ganz so, als wäre sie etwas zum physischen Hantieren. Diese Zuhandenheit hat die vernetzte Kommunikation unserer Zeit erst so überbordend gemacht, wie sie ist: Ubiquität, Geschwindigkeit und Datenmasse allein machen noch nicht aus, dass der menschliche Körper zum Knotenpunkt von Information wird. Dafür braucht es auch die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der man keinen fernen Bekannten mehr aus dem aufs Display gerichteten Blick lässt. Und es braucht umgekehrt die Möglichkeit, die eigene sinnliche, affektive, körperliche Gegenwart in Information zu verwandeln, in Fotos und Videos, in Emoticons und in kurze Botschaften, mit denen dann andere hantieren können. Kurz: Es braucht Zuhandenheit.
Dieses Zuhanden-Werden von Information ist nur eine Seite der iPhone-Formel. Die andere betrifft das Information-Werden des Zuhandenen. Neuere Witze über Gedankenfehler lassen erkennen, wie weit auch diese Entwicklung fortgeschritten ist. Vor den Smartphones wurde noch die Fehlleistung zu Tode gewitzelt, eine online bestellte Pizza downloaden zu wollen. Hinter diesem Gedankenfehler verbarg sich die Gewöhnung an die virtuelle Vorhandenheit von Dingen. Als ich neulich im Boxstudio etwas unbeholfen an meiner Deckung arbeitete, fragte einer der besseren Boxer: „Brauchst du dafür eine App?“ Auch bei diesem Witz geht es um eine Virtualisierung, bloß eben nicht um die Virtualisierung eines Dings, sondern um die Virtualisierung einer Fertigkeit, um den Kurzschluss des Körpers mit dem Wissen einer Informationsmaschine, um den Ersatz bloßer Zuhandenheit durch zuhandene Information.
Dieser Ersatz ist ebenfalls überall zu beobachten. Das Gespür für den eigenen Körper wird durch Gesundheits-Apps ersetzt, die Gewöhnung an den Umgang mit Freunden durch Apps, die an langsamen oder zu arbeitsintensiven Tagen darauf aufmerksam machen, dass man nicht kommunikativ genug ist. Die Navigations-App setzt sich an die Stelle des Orientierungssinns, die Wetter-App an die Stelle des abwägenden Blicks an den Himmel. Was auf diese Weise stattfindet ist eine Rationalisierung: Wo körperliche Unwillkürlichkeit und Gewohnheit war, wird rationale Kontrolle und Wissen. Man bewohnt nicht mehr die Welt, sondern die zuhanden gewordene Information.
Steve Jobs Ausdruck „alles wird anders“ erinnert an einen biblischen Ausspruch. In der Johannesoffenbarung (21,5) sagt der Weltenrichter dem Visionär: „Siehe, ich mache alles neu.“ Auch Gott schafft am Ende der Tage eine Wahrheit zum Bewohnen: Was zuvor bestenfalls dem Geist zugänglich war, kommt den Erlösten nun in ihrer ganzen Existenz zu. Das iPhone bringt uns dieser Vision näher. Doch gehen technische Realisierungen alter Menschheitsträume meist mit Enttäuschungen einher. Dass wir seit zehn Jahren erlöster seien als zuvor, würde ich nicht so einfach behaupten wollen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm