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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Fünfmal während des vergangenen Jahres mussten Möbel, Wände und Böden der Penthouse-Wohnung, die sein Club einem der strahlendsten jungen Abwehrspieler in der Bundesliga mietet, komplett renoviert werden. Für ihn und viele seiner Kollegen ist es auch nicht selbstverständlich, den zuständigen Physiotherapeuten nach Anwendungen kurz zu danken. Rührend beinahe, aber von ähnlichem Symptomwert ist die Geschichte von dem zu Recht hoch bezahlten Angreifer, der während der Urlaubszeit seines Managers beim Videoanalytiker anrief, um zu erfahren, wo und wie er eilig einen neuen Sportwagen kaufen könne. Der beliebig zu erweiternde Anekdotenschatz aus dem Karrieretunnel des Fußballs sollte freilich keine moralische Entrüstung auslösen. Denn er zeigt nur auf eine zum Regelfall gewordene Fehlentwicklung in der Persönlichkeitsstruktur von Berufssportlern. Aufgrund eines spezifischen Talents werden sie oft schon vor den Pubertätsjahren entdeckt, arbeiten dann ausschließlich an der Entfaltung dieses Potentials – und bleiben innerhalb der großen Freizeitspielräume zwischen Trainingseinheiten, Reisen und Wettkämpfen ganz sich selbst (und der elektronischen Beschäftigungstechnologie) überlassen. Die Entstehung und der Kern des Problems werden in seiner Vorgeschichte greifbar.
Adi Preißler, Kapitän jener Dortmunder Mannschaft, die 1956 und 1957 zwei deutsche Meisterschaften gewann, gehört der bis heute mit bewundernder Ironie zitierte Satz „entscheidend ist auf dem Platz“, der sich gegen damals überflüssig scheinende Trainingsmethoden und Spielstrategien wandte. Bis heute erfasst er aber auch eine den Berufssportlern auferlegte Persönlichkeitsstruktur. Wenn man sich nämlich klar macht, dass wir im Laufe unseres Lebens eine öffentliche und eine private Identität ausbilden – das heißt zum einen jene meist vorgegebene Rolle, die wir etwa im Beruf allgemein sichtbar spielen, zum anderen die als authentisch und individuell erlebte Rolle, wie sie aus dem Kontakt mit vertrauten Personen entsteht – dann wird klar, wie sehr Protagonisten des Sports dem Erwartungsdruck ausgesetzt sind, ihre private Identität möglichst weit der sich „auf dem Platz“ zeigenden öffentlichen Identität unterzuordnen.
Niemand machte diese Atrophie deutlicher als Sepp Herberger, Weltmeistertrainer von 1954. Selbst auf den seltenen Fotos mit seiner Frau ist er stets im Trainingsanzug des Deutschen Fußballbundes und in Sportschuhen zu sehen (was damals niemand als Geste der Werbung interpretierte). Jeden Gedanken, den Journalisten hinter Herbergers listigem Gesicht vermuteten, ordneten sie dem Fußball zu – und angesichts solch existentieller Ausschließlichkeit schien es ganz natürlich, dass Herbergers Ehe kinderlos blieb. Dies war auch bei seinen Lieblingsschüler Fritz Walter und dessen Frau Italia der Fall – von denen man eigentlich nur wusste, dass sie nie so recht erfolgreich in den beruflichen Situationen wurden (Tankstelle, Wäscherei, Kino), mit denen großzügige Fußballanhänger ihr Leben hatten erleichtern wollen. Fritz Walters möglicherweise traumatische Fronterlebnisse und ihre psychischen Folgen oder Sepp Herbergers nationalsozialistische Vergangenheit hingegen blieben unter den Fußballrollen verdeckt.
Als Deutschland 1974 zum zweiten Mal Weltmeister wurde, hatte sich eine andere Persönlichkeitsstruktur herausgebildet. Da man den Stil prominenter Spieler nun als Ausdruck ihres Charakters deuten wollte, entstanden Vermutungen über private Identität, die nie mehr sein konnten als platte Projektionen des Eindrucks von ihrem Spiel. Günter Netzers entschlossene Mittelfelddribblings und Pässe zum Beispiel machten ihn zum „Rebell am Ball“ (so der Titel seiner ersten Biographie), während Franz Beckenbauers Bewegungen Assoziationen mit monarchischer Würde und einem Status erhobener Individualität weckten („Einer wie Ich“). Zwar wurde die private Dimension nun nicht mehr verdunkelt, doch was in den Blick kam, waren bloß Elemente der öffentlichen Sportlerrollen, welche die Umrisse privater Identität ausfüllten.
Vor diesem Hintergrund sind Manager und Präsidenten erstaunlich eindimensional geblieben. Die Mehrzahl der Manager oder „sportlichen Direktoren“ erlauben ihrer öffentlichen Berufsrolle, alle Anzeichen persönlicher Identität zu neutralisieren. Im Gegensatz zu den amerikanischen „Besitzern von Sportunternehmen“ oder den fabelhaft reichen „Sponsoren“ aus dem Näheren oder Ferneren Osten pflegen europäische Fußballpräsidenten traditionelle und oft national gefärbte Stereotype von Männlichkeit. Florentino Pérez von Real Madrid gibt den absoluten Herrscher mit bedingungslosem Streben nach Ruhm, Silvio Berlusconi hatte in seinen Jahren beim AC Mailand eine farbigere und zugleich zwielichtigere Version desselben Rollentyps dargestellt, und in Deutschland scheint eine Sehnsucht nach väterlicher Autorität nach dem Vorbild von Uli Hoeneß nicht auszusterben, wie die erstaunliche Rückkehr des Bayernpräsidenten nach seiner Haftstrafe belegt.
Die Eindimensionalität der großen Spieler aber macht eine viel dürftigere Variante dieses Strukturmusters aus, weil der typische Fußballpräsident (Uli Hoeneß ist hier die Ausnahme) immerhin seine Lebensleistung in einem anderen Beruf zu einem neuen, oft abschließenden Höhepunkt führen will. Sicher, Sportlern mit der ästhetischen Ausstrahlung eines Messi, Ronaldo oder Neymar sollte man nicht auch noch die Erwartung starker privater Identitäten oder gar moralischer Vorbildfunktionen zumuten. Doch es ist bemerkenswert – und manchmal auch bewegend – zu sehen, wie viele von ihnen trotz ihrer globalen Aura an die Ursprungsfamilie gebunden bleiben. Lionel Messi, dessen Spanisch nach mehr als der Hälfte eines Lebens in Barcelona noch heute so klingt, als hätte er den argentinischen Geburtsort Rosario nie verlassen, ist nicht gut damit gefahren, dem Vater die Verwaltung des Vermögens und die Abwicklung der Steuerverpflichtungen zu überlassen. In Cristiano Ronaldos privater Existenz nimmt die Gegenwart seiner Mutter und eines ihr am Herzen liegenden Enkels den zentralen Raum ein. Neymar heißt offiziell „Neymar Junior“, um den eitlen Mythos eines Vaters zu pflegen, der als ehemaliger Drittligaspieler überzeugt ist, sein singuläres Talent an den Sohn weitergegeben zu haben.
So bleibt die persönliche Identität der Stars gegenüber ihrer öffentlichen Rolle auf dem Spielfeld im Karrieretunnel gleichsam versiegelt und kann sich nicht weiterentwickeln. Pierre Emerick Aubameyang hat es als Torjäger in Dortmund nicht nur zum afrikanischen Fußballer des Jahres und zum Weltstar gebracht, er ist auch berühmt dafür geworden, seine Tore besonders spektakulär mit einem Salto und manchmal sogar mit einer Batman-Maske zu feiern. Doch in privaten Gesprächen wirkt er scheu und einsilbig. Die Zeiten zwischen den Trainingseinheiten und Spielen füllen er und die meisten seiner Kollegen mit Videospielen und Twitter-Kommunikation, während alle Alltagsaufgaben diesseits des Fußballs – vom Sportwagenkauf bis zu den Zweierbeziehungen – organisatorisch perfekt von Managern abgedeckt werden. Dass dabei oft langfristig problematische Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, scheint nur wenige von ihnen zu stören – und meist Teil ihrer Strategie zu sein. Ausnahmeaspekte, wie die Entscheidung von Philipp Lahm gegen einen Karriereübergang in die Rolle des Sportdirektors bei Bayern München oder Cristiano Ronaldos Teilnahme an den Entscheidungen über die Investition seines Vermögens, bestätigen nur diese Regel – und werden allzu leicht mit einer so nicht existierenden Normalität verwechselt.
Schon nach wenigen Spielzeiten lebenslang gut versorgt, werden sich die erfolgreichsten dieser jungen Männer ohne erwachsene Privatsphäre oft selbst zum Problem, wenn sie für eine Zeit (wie etwa der von Schalke 04 zu Manchester City gewechselte Leroi Sané) nicht regelmäßig zum Einsatz kommen – und verlieren dann schnell den Mut zu persönlicher Unabhängigkeit. Ohne Protest erfüllen sie ohnehin die Erwartung ihrer Clubs, keine politischen Stellungnahmen abzugeben. Sollte es doch je so weit kommen, lassen sie sich ohne weiteres zurückpfeifen, wie vor Kurzem ein türkischer Spieler von Bayern Leverkusen, der ohne Abstimmung mit dem Club seine Sympathie für Staatspräsident Erdogan ausgedrückt hatte – was zu einem Zeitpunkt, als Angela Merkel auf Staatsbesuch in Ankara war, eigentlich keinen Provokationswert hatte. Vielleicht erklärt die so emphatisch als Neutralität und Normalität inszenierte persönliche Leere ja auch, warum sich so erstaunlich wenige aktive Fußballer zu Homosexualität als exzentrische Lebensform bekennen – obwohl ihre Gesellschaften längst gelernt haben, die eigene Toleranz als Wert zu feiern.
Und was sollte die neue Trainergeneration gegen die Persönlichkeits-atrophierende Dominanz der Fußballrolle ihrer Spieler setzen? Versorgungsprobleme nach Karriereende kommen dank drastisch gestiegener Einkünfte und kompetenter gewordener Manager heute bei ehemaligen Spielern der Ersten Bundesliga kaum noch vor. Deshalb muss die Sicherung eines Schulabschlusses – auf die man früher bestand, um Berufsalternativen offen zu halten – heute nicht mehr die Lösung sein. Es sollte um eine ganz andere „Bildung“ gehen, die junge Spieler primär fasziniert, ihrer existentiellen Leere vorbaut und als mentaler Faktor auch ihre sportliche Kompetenz erhöht. Könnten die Mannschaften zum sozialen Medium einer solchen Entwicklung werden? Gibt es Alternativen zum Dauer-Tischtennis bei Trainingslagern? Ein Beginn wäre vielleicht der Versuch, diesen jungen Männern in beständiger Bewegung ein – das Karrieretunnel öffnendes – Gefühl dafür zu geben, wo auf ihren Reisen sie sich jeweils im Hinblick auf Populärkultur, Sprache, Politik oder Sportgeschichte befinden. Doch zunächst muss es darum gehen, das Problem der Persönlichkeitsstruktur von Berufssportlern unserer Gegenwart überhaupt prägnant in den Blick zu bringen.
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| Vito Liverani / Omega Fotocronache (in Gunnar Nordahl: Milano nello sport, ISBN: 978-88-203-6316-1 / Gemeinfrei)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm