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Thorsten Philipp studierte Kunstgeschichte, Romanische Philologie und Politische Wissenschaften an den Universitäten München, Wien, Brescia und Aix-en-Provence. Im Anschluss an seine Promotion am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München war er als Politikberater mit Schwerpunkt Umwelt und Entwicklung in Brüssel tätig. An der Zeppelin Universität leitet Thorsten Philipp als Programmmanager die Studiengänge Digital Pioneering und Business & Leadership for Engineers. Er lehrt Entwicklungs- und Umweltpolitik, Nachhaltigkeitstheorien sowie Asyl- und Wanderungspolitik an mehreren Hochschulen, darunter an der Universität Freiburg.
Kann verantwortliches politisches Handeln im Zeitalter komplexer Systeme im Zeichen der Einfachheit stehen? Eine Antwort auf diese Fragestellung öffnet sich möglicherweise im Blick auf eine künstlerische Strömung, die sowohl den Willen zur politischen Gestaltung wie auch das Bekenntnis zur Einfachheit im Banner führte und im Italien der späten Kriegsjahre geradezu unfreiwillig zum bestimmenden kulturellen Phänomen wurde. Unfreiwillig war die Bewegung des Neorealismus in den Augen der Literaturwissenschaftlerin Maria Corti deshalb, weil sie sich nie als literarische Schule formierte, sondern aus der Not ihrer Zeit zahlreiche Autoren geradehin gegen deren Willen in sich aufsog. Politisch war sie, weil sie sich als Reaktion auf die gesellschaftlichen Vorgänge ihrer Zeit verstand und weil sie Italien – das seit 1922 in der Gewalt der faschistischen Partei, spätestens seit 1943 indes im Zeichen militärischer Niederlagen und tiefgreifender politischer Veränderungen stand – aus der Perspektive der Marginalisierten, Ausgeschlossenen, Entrechteten und Chancenlosen reflektierte.
Die Zeitspanne dieser künstlerischen Strömung eröffnete sich in den frühen 1920er-Jahren mit Ignazio Silones im Davoser Exil entstandenen Erzählung „Fontamara“ und führte über Corrado Alvaros „Hirten vom Aspromonte“ (1930) und Carlo Bernaris „Drei Arbeiter“ (1934) in die eigentliche Kernphase neorealistischer Textproduktion, die thematisch dem Bereich der „resistenza“, der italienischen Widerstandsbewegung und der Untergrundpresse, der stampa clandestina vorbehalten blieb. 1945 erschienen mit Elio Vittorinis „Dennoch Menschen“ und Carlo Levis „Christus kam nur bis Eboli“ die eigentlichen Schlüsselwerke neorealistischer Ästhetik, denen sich der späterhin so berühmte Italo Calvino 1947 mit seinem Erstlingswerk „Wo Spinnen ihre Nester bauen“ anschloss.
Zu den zentralen ästhetischen Kennzeichen dieser Bewegung gehörte in erster Linie ihr beinahe kompromissloser Wille zur Entfiktionalisierung: Die distanzlose, ungeschönte und unmittelbare Abbildung gesellschaftlicher Gegenwart – ganz so, wie sie war, und eben nicht, wie sie sein sollte. Dezidiert einfach war diese Ästhetik, weil sie auf jede Kunstprosa, auf einfallsreiche und stilisierte Darstellungsformen verzichtete und stattdessen den „gesto semplice“ wählte: Einen Wortschatz von gewollter Beschränktheit und Undifferenziertheit, hochfrequente Lexeme und monotone Wiederholungen, durch die sich die alltägliche Wiederkehr des Immergleichen auch stilistisch abbilden ließ. Zugleich band sich die Strömung an Regionalismus und Dialekt – ihr Wirklichkeitsbild vollzog sich nicht in den bürgerlichen Kreisen Roms oder Mailands, sondern in den ruralen „strati popolari“, den unteren Sozialschichten auf dem Lande und ihrer Idiome: „Die italienische Sprache“, schrieb Silone in einer Mischung aus Anwiderung und Ratlosigkeit im Vorwort zu „Fontamara“, „ist für uns eine Sprache, die wir in der Schule gelernt haben, […] eine fremde Sprache, eine tote Sprache, eine Sprache, deren Wörterbuch, dessen Grammatik keinerlei Beziehung zu uns gebildet hat.“ Die neorealistische Erzählung war also bei genauerem Hinsehen eine Übersetzungsleistung, deren Autoren in Kauf nahmen, durch die Wahl des Standard-Italienischen die angestrebte Unmittelbarkeit und Authentizität zwangsläufig wieder zu verlieren. Kennzeichnend für den Neorealismus war aber schließlich seine stark raumsemantische Wirklichkeitszeichnung, bei der sich zwei oppositive Pole weitestgehend unversöhnlich gegenüberstanden: Gutes und Böses, Widerstandskämpfer und Faschisten, Bauern und Bourgeoisie, Region und Nation, Dialekt und Standard. War das einfache Volk der Ort der Authentizität und der Lebendigkeit, blieb der Faschismus die Reproduktion des Todes.
In den Spuren dieser Ästhetik bewegte sich der Neorealismus auch in seiner kinematographischen Ausprägung, als dessen Startfanal gemeinhin Luchino Viscontis „Besessenheit“ von 1943 gilt. Mit Roberto Rosselinis berühmter Filmtrilogie „Rom, offene Stadt“ von 1945, „Paisà“ und „Deutschland Stunde Null“ (beide von 1946) ebnete sich auch im Kino die Aufarbeitung der Kriegsjahre ihre Bahn, derweil spätere Beiträge wie etwa Vittorio De Sicas „Fahrraddiebe“ und Viscontis „Die Erde bebt“ (beide von 1948), die Ausweglosigkeit der „strati popolari“ beschrieben und so die ungehindert fortgesetzten Mechanismen des Ausschlusses und der Marginalisierung armer Bevölkerungsgruppen ausleuchteten.
Was hier im Bekenntnis einer Ästhetik der Einfachheit festgehalten wurde, war freilich niemals einfach nur Realität, sondern vielfach auch Projektion einer neuen, angedachten Wirklichkeit, die sich am Horizont verheißungsvoll auftat. Einfachheit, „semplicità“, offenbarte sich im Neorealismus zugleich als etwas, was damals wie heute den Kern gesellschaftlichen Zusammenlebens beschreibt. Geht es im Kern der komplexen und vielfach globalisierten Probleme nicht immer wieder um zutiefst einfache Bedürfnisse? So unübersichtlich Politikfelder wie Klimawandel, Naturzerstörung, Migration und Flucht erscheinen mögen – im innersten Brennpunkt stehen erschütternd elementare menschliche Bedürfnisse: körperliche Unversehrtheit, ruhiger Schlaf, saubere Luft, gesunde Ernährung und ausreichende Nahrung. Eindringlich und zeitlos lässt Vittorini seinen Protagonisten, den Widerstandskämpfer Enne 2, sagen: „Dafür kämpfen wir. Dass die Menschen glücklich sind.” Und Romanfigur Berta bekräftigt lapidar: „È semplice.“ – Es ist einfach. So betrachtet, war der Neorealismus damals wie heute eine Einladung: Jeder darf mitreden, jeder muss teilhaben, denn es geht um etwas Einfaches, an dem sich unsere Zukunft entscheidet, es geht um die Werte, Bedürfnisse und Träume, in denen wir alle gleich sind und in denen sich unsere Menschlichkeit verwirklicht. Ihr literarisches Brennglas ist der Neorealismus.
Titelbild:
| Kaboompics (Karolina) / Pexels.com (CC0 Public Domain)
Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Thorsten Philipp
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm