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Professor Dr. Karen van den Berg ist Professorin für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993 bis 2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privatuniversität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kunst und Öffentlichkeit, Kunstvermittlung und Politik des Zeigens, Kunst und Emotionen, Rollenmodelle künstlerischen Handelns sowie die sozialen Effekte von Bildungsarchitekturen.
Wechselt die Kunst in diesen postfaktischen Zeiten die Seiten? Ist sie es, die plötzlich das Reale zur Erfahrung bringt und sauber recherchierte dokumentarische Arbeit leistet? Fühlen Künstler, deren gesellschaftliche Aufgabe doch ehedem in der Fabrikation des Imaginären bestand, sich plötzlich berufen, der gegenwärtigen quick-reaction-Kommunikation präzise Analysen und scharfe Wirklichkeitsbeobachtungen entgegenzustellen? Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man die diesjährigen Großereignisse der Kunst bereist und die Biennale in Venedig, die documenta in Kassel und die Kunstmesse Art Basel besucht.
An allen drei Orten berichten große Filmpanoramen über Flucht, Einzelschicksale und Identitätspolitik oder dokumentieren die Arbeit politischer Bewegungen. Überall machen Performances die reale Gegenwart erfahrbar und fordern dazu heraus, seinen eigenen Standpunkt zu überprüfen und nach zu justieren.
In Venedig führt die Künstlerin Anne Imhof im deutschen Pavillon hinter meterhohen Gitterzäunen und unter Glasböden auf machtvolle Weise die Leere des Daseins vor Augen. Unter dem Titel „Faust“ treten hier Performer/innen in einem verstörenden Menschenzoo auf – umgeben von einem Hundezwinger mit beängstigenden Dobermännern. Und Candice Breitz zeigt im südafrikanischen Pavillon Flüchtlinge, die vor der Kamera ihre Geschichte erzählen. Im aserbaidschanischen Pavillon berichten Menschen mit unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Hintergründen des Vielvölkerstaates über die für sie einschneidenden biografischen Ereignisse. Lisa Reihana entwirft im neuseeländischen Pavillon ein großes Panorama, das Captain Cooks kolonialistischen Blick auf die Südsee entfaltet.
Auch auf der documenta sind die beeindruckendsten Arbeiten umfangreiche Filmprojekte und performative Interventionen. So dokumentiert etwa Angela Melitopoulos’ Video und Soundinstallation „Crossings“ (2017), die gemeinsam mit dem Sozialphilosoph Maurizio Lazzarato entstand, in ergreifenden Bildern und Klangwelten die Aktivitäten von verschiedensten politischen Bewegungen. Und Mounira Al Solh baut mit der Installation „Nassib’s Bakery“ (2017) den elterlichen Familienbetrieb in Beirut nach, der von Bomben zerstört wurde. Das Londoner Kollektiv „Forensic Architecture“ rekonstruiert den Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006, in den der Undercover-Agent Andreas Temme verwickelt war. Im Fridericianum trifft man auf Oliver Resslers Installation „What Is Democracy?“ (2007-2009), in dem Aktivist/innen und Theoretiker/innen die parlamentarisch repräsentative Demokratie kritisch beleuchten und in eindringlichen Worten und Bildern alternative Überlegungen erörtern. Ergreifend und erschütternd ist auch Köken Erguns Zwei-Kanal-Videodokumentation „I Soldier“ (2005), die paramilitärische Zeremonien des türkischen Nationalfeiertags einfängt. Die Migrationsgeschichte des großen litauischen Filmregisseurs Jonas Mekas wird in Kasseler Kinos gleich zweimal gezeigt, einmal eingefangen vom schottischen Künstler Douglas Gordon und einmal als autobiografisches Super-Acht-Filmdokument von 1972. Um das Thema Migration geht es auch bei dem irakisch-deutschen Künstler Hiwa K., der im Außenraum aufgetürmte Kanalröhren zeigt, die als bizarre Behelfswohnungen möbliert sind und an seine eigene Flucht aus dem Irak erinnern.
Auch auf der Verkaufsmesse Art Basel konnte man diesmal nicht nur im Beiprogramm, sondern auch auf den Messeständen zahlreiche Performances und dokumentarische Arbeiten entdecken. Unter den 76 Großinstallationen auf der Art Unlimited – jenem Ausstellungsbereich, der große Arbeiten und Installationen zeigt, die auf den Messeständen keinen Platz fänden und nur von Sammlern erworben werden können, die Museumsformat einkaufen – traf man etwa auf den Küchenpavillon des Inders Subodh Gupta. In diesem aus Kochtöpfen und Pfannen gebauten Haus wurde für Besucher gekocht. Auch auf der Art Unlimited gab es eine ganze Reihe Arbeiten zu sehen, die vor allem Lebensrealitäten vor Augen stellen. Ein Beispiel hierfür war die rasante Filmarbeit „The Challenge“ (2016) von Yuri Ancarani. In mitreißenden Bildern hält der italienische Künstler die exzentrischen Autorennen und Falkenjagd-Events der superreichen Oberklasse in Katar fest. Dokumentarischen Charakter hatten in diesem kuratierten Teil der Messe auch die aufrüttelnden Bilder des ukrainischen Künstlers Boris Mikhailov.
An allen drei Orten werden natürlich vor allem Malereien, Fotografien und Skulpturen ausgestellt. Insgesamt fällt aber dennoch der deutliche Trend zur Präsentation des Realen über die Medien Film und Performance auf. Nicht immer gelingt dabei das Eingreifen in die soziale Wirklichkeit in angemessener Form. Ólafur Elíassons „Green light – An artistic workshop“ in Venedig etwa, in dem Geflüchtete vor den Augen der Besucher/innen vorgefertigte Teile zu Lampen zusammensetzen, scheint der Übertritt in die soziale Welt jenseits des Kunstbetriebes vollkommen misslungen. Wenn das Kunstpublikum die Geflüchteten mit dem Smartphone fotografiert und dann für 250 Euro eine Lampe erwirbt, so bespiegelt sich das Kunstpublikum auf peinliche Weise selbst.
Eine besondere Herausforderung der neuen Realismen besteht aber auch bei den wirklich sehenswerten Beiträgen in der Eigenzeit der Werke. Mehr denn je muss man Ausdauer und Zeit mitbringen. Yuri Ancaranis „The Challenge“ (2016) in Basel etwa dauert 69 Minuten – ein Filmformat, das man noch vor wenigen Jahren kaum für messetauglich erachtet hätte. Die Installation von Angela Melitopoulos auf der documenta dauert ganze 109 Minuten. Um Anne Imhofs „Faust“ auf der Biennale sehen zu können, muss man sich schon vorher auf Wartezeiten einstellen.
Doch gerade hierin zeigt sich auch eine ganz eigene Widerständigkeit. Denn diese neuen Realkünste führen ihrem Publikum vor Augen, dass es sich lohnt, die Wirklichkeit, in der wir leben, wie mit einer Lupe abzutasten, sie sichtbar und erfahrbar zu machen, ihre Abgründe schonungslos auszuleuchten und sich von ihrer Schönheit ergreifen zu lassen. Dabei zwingen sie uns auch dazu, uns dafür Zeit zu nehmen. Ja, selbst die Kunstmesse verwehrt zunehmend das bloße Flanieren, auch hier scheint in diesen Zeiten das Flanieren nicht mehr der angemessene Weltzugang. Selbst mitten im kommerziellen Kunstbetrieb wird verlangt, genauer hinzuschauen, zu verweilen und zu versuchen zu verstehen, in welcher Welt wir leben.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Karen van den Berg (Foto: privat)
| g.sighele: Art Basel 2011 (CC BY 2.0) | Link
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Karen van den Berg
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm