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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen. Den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse hatte zuvor PD Dr. Alexander Ruser erfolgreich vertreten.
Es war einmal die Zeit der geisteswissenschaftlichen Bücher. Wer zu jener Zeit aufwuchs und intellektuell sein wollte, erinnert sich, mit ehrfürchtigem Blick auf gigantische Papiermassen gestarrt zu haben. Eine Intellektuellenwohnung erkannte man an den vollgestopften Regalen, denen die Statik der Altbauten nie und nimmer gewachsen war. Die jeweils gerade diskutierten bunten Taschenbücher lagen auf überquellenden Schreibtischen. Bücher mussten sichtbar im Gebrauch sein, was notfalls auch zum „Stone-Washed“-Verfahren führte: dem raschen Umbiegen und Zerknittern der Seiten kurz vor dem Oberseminar.
Heute beschleicht mich beim Blick auf meine eigenen Regale der Verdacht, dass mein Arbeitszimmer gestrig aussieht. In meinen Seminaren stehe ich nicht vor irgendwie gelesen aussehenden Büchern, sondern vor aufgeschlagenen Laptopdeckeln, hinter denen ich mir die PDFs gelesener Texte bestenfalls erhoffen kann. Google hilft dem Niveau der Diskussionen auf die Sprünge.
Was ist passiert? Am Medienwandel allein kann der Gesinnungswandel nicht liegen. Die Funktion, die die Bücher in ihrer großen Zeit hatten, erfüllen sie heute so gut wie kein anderes Format. Papier ist geduldig, im guten Sinne des Wortes. Bücher zwingen ihre Leser dazu, sich Zeit für sie zu nehmen. Google und die sozialen Netzwerke sind stattdessen ungeduldig, und das heißt unfähig, das Denken ungewohnte Bahnen einschlagen zu lassen.
Warum aber nehmen sich immer weniger Leser diese Zeit, warum sinken die Verkaufszahlen? Die einfache Antwort, dass die durchdigitalisierten Menschen schnelllebig und oberflächlich geworden seien, ist falsch. Wir befinden uns kulturhistorisch in einer Epoche der Langerzählungen. Es ist üblich, sich viel Zeit zu blocken für endlos lange Romane, für komplexe Videospiele auf zig Levels, für TV-Serien, die allmählich mehr intellektuelle Resonanz finden als Kinofilme. Bloß eben blockt man kaum Zeit für geisteswissenschaftliche Bücher.
Ist also die Zeit der Intellektualität vorbei? Auch das stimmt nicht: Das enorme Interesse an guten Blogs, an intelligenten Podcasts und YouTube-Videos und an einem guten Feuilleton zeigt das. Das Problem liegt vielmehr an den geisteswissenschaftlichen Büchern unserer Zeit.
Für diese Vermutung spricht der Umstand, dass intellektuelle Leser das Feuilleton, die Blogs und die anderen Medien offenbar kaum nutzen, um sich wichtige Bücher empfehlen zu lassen. Sie lesen sie vielmehr anstelle dieser Bücher. Die intellektuelle Öffentlichkeit hat also schlechte Erfahrungen gemacht mit Büchern, deren kontemplativer Gehalt – eben – die ein bis zwei Spalten des Feuilletons rechtfertigt, nicht aber die vierhundert Seiten, die das Buch selbst umfasst.
Dieses Verhalten ist nachvollziehbar, wenn es um Bücher geht, die vor allem Forschung sein wollen – nicht Intellektualität. Das Forschungsbuch belegt so viel, wie es nur kann, was eine extreme Verästelung der Argumentation und eine detaillierte Beschäftigung mit Quellen und Kollegen – kurz: eine enorme Verzögerung des Denkens nach sich zieht. Typische Intellektuellenbücher – sagen wir einmal Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“, Michel Foucaults Überwachen und Strafen„“ oder Peter Sloterdijks „Du musst dein Leben ändern“ – haben hingegen zum Ziel, beim Leser eine besondere Art des Denkens hervorzurufen und Seite für Seite immer neu zu ermöglichen.
Gewiss: Beide Büchertypen muss es geben. Aber die heutige geisteswissenschaftliche Community vernachlässigt die Intellektuellenbücher. Das war in der großen Zeit der gigantischen Buchmassen anders. Denn damals war das Intellektuellenbuch die Maßgabe. Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Roland Barthes und Pierre Bourdieu (um nur einige zu nennen) etablierten sich nur schleichend in den akademischen Institutionen – und zwar zumeist deshalb, weil ihre Bücher auf dem Markt längst großen Erfolg hatten. Der Buchmarkt stellte ein Korrektiv gegenüber der zur Selbstbezüglichkeit neigenden innerakademischen Kontrolle dar – und die doppelte Verankerung in Wissenschaft und Öffentlichkeit gab diesen Denkern genau die Freiheit zur Kontemplation, die sie berühmt machte.
Diese Form der Freiheit ist auf dem Rückzug. Dem Buchmarkt tritt man eher mit Skepsis entgehen, wie ich als Verlagslektor in endlosen Telefonaten mit potentiellen Autoren erfahren habe. Dass ein Verlag Bücher auch nach Marktbedingungen verkaufen muss, wird von den Autoren als Beleidigung wahrgenommen. Den Forschungsstand zu kürzen, Gedankenschlenker zu streichen oder packende Gedanken zuzuspitzen, kommt gar nicht erst in die Tüte. Ein anderes Beispiel ist die um sich greifende Gesinnung zur Open-Access-Publikation. Meist ohne nennenswerte finanzielle Erleichterung bringen sich immer mehr Geisteswissenschafter freiwillig um Werbung, Besprechung im Feuilleton, Veranstaltungen im Buchhandel, kurz: um ihr außerakademisches Publikum. Sprach ich mich als Lektor pro domo zugunsten der Bücher aus, mutierte ich zum Ausbund einer verwerflichen angeblichen Marktmacht.
Wenn heutige Geisteswissenschafter sich Status und Freiraum sichern wollen, denken sie nicht mehr an den Buchmarkt, sondern an Drittmittel und Forschungsprojekte. Der Wettbewerb um Drittmittel ist aber etwas ganz anderes als der Wettbewerb um die intellektuelle Öffentlichkeit. Es ist kein Wettbewerb um das Interesse wacher außerakademischer Leser, sondern um die Gunst innerakademischer Gutachter. Gutachter fordern vor allem Forschungsstandards ein und lassen sich sogar teils durch deren Einhaltung leicht abfrühstücken, solange sich damit Forschungslücken schließen lassen. Es ist ein bisschen so, als wäre es die vornehmliche Aufgabe geisteswissenschaftichen Denkens, die Welt leerzuforschen – ein Umstand, für den der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner den wundervollen Begriff der „Überforschung“ geprägt hat. Leser sind da ganz anders. Sie wollen ein Denken, für das es sich lohnt, viel Zeit freizuhalten.
Viele Geisteswissenschaftler sehen dieses Problem – aber sie sehen es seltsamerweise als Marktproblem: der Drittmittelbetrieb wird vor allem als „neoliberal“ oder „kapitalistisch“ kritisiert. Dabei ist eigentlich offenkundig, dass man es, wenn schon, dann höchstens mit einer kafkaesken Parodie des Neoliberalismus zu tun hat – mit einer Ordnung, der ihr Grundprinzip genommen worden ist: der Markt. Gerade das Phänomen der Überforschung ist in dieser Hinsicht sprechend. Wie bei der Überfischung der Meere geht es zwar durchaus um eine sogenannte „Tragedy of the Commons“ (eine Übernutzung kollektiver Grundlagen durch individuelles Streben nach Eigennutz). Doch entsteht sie aus ganz anderen Gründen: Während es eine gesellschaftsübergreifende wachsende Nachfrage nach Fisch gibt, die die Fischer zu einem ökologisch problematischen Markthandeln treibt, ist es um die Nachfrage nach geisteswissenschaftlicher Forschung eher mau bestellt. Sich selbst überlassen, hätte der Buchmarkt hierauf sicherlich nicht durch Überproduktion reagiert – wenn es nicht die direkten (Druckkostenzuschuss) und indirekten (Bibliotheksfinanzierung) Subventionen gäbe. Nur bei der Überfischung geht es also um Marktversagen, das Problem der Überforschung ist stattdessen auf ein Versagen wissenschaftlicher Selbstregulierung zurückzuführen – und mehr Markt, mehr Besinnung auf die Interessen intellektueller Leser schaffe stattdessen einzig Abhilfe.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich will damit nicht sagen, dass die Geisteswissenschaften keine Forschung mehr betreiben, dass sie sich nicht mehr auf sich selbst und ihre eigenen spezialisierten Diskussionen konzentrieren sollten, für die Forschungsstandards unerlässlich sind. Aber intellektuelle Abenteuer sind ein ebenso wichtiger Bestandteil geisteswissenschaftlicher Arbeit. Auch sie – und nicht nur die Forschung – sind, was den Geisteswissenschaften ihren gesellschaftlichen Status verleiht. Ohne Denkabenteuer bieten zu können, fehlt den Geisteswissenschaften jene Macht, die ihre Existenz seit Gutenberg überhaupt erst möglich gemacht hat – und dessen zentraler Gradmesser nach wie vor der Buchmarkt ist.
Wie lässt sich dieser Markt aber retten? Eine Rückkehr in die alte Zeit der Bücher ist ausgeschlossen. Diese Zeit ist vorbei. Die Aufgabe ist vielmehr, eine andere Zeit der intellektuellen Bücher zu schaffen. Wie man einen Markt für intellektuelle Bücher neu erfindet, hat die Zeit der Bücher vorgemacht. Die damals neuen Medien waren einerseits Taschenbücher und andererseits schnell und billig gewordene Vortragsreisen. Es war die Zeit großer Erstauflagen und überfüllter Hörsäle bei Gastvorträgen – und dieser Umstand ermöglichte überhaupt erst jene kleineren Oberseminar- und Kneipengemeinschaften, die sich als Teil einer intellektuellen Bewegung verstanden und als Buch-Öffentlichkeit zusammenschlossen.
Wir leben im 21. Jahrhundert. An die Stelle der Öffentlichkeit und der Kleingruppen sind die sozialen Netzwerke getreten. Geisteswissenschaftliche Bücher müssen sich in einer Art Online-Partnerbörse behaupten – wobei sie aber die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, dass sich daraus etwas Dauerhaftes entwickeln wird. Denn nur diese Dauer rechtfertigt sie ja als Bücher.
Der geforderte intellektuelle Stil ist damit ein anderer geworden. In der Zeit der Bücher war noch ein Schreiben der Ankündigung eines neuen Denkens, war ein Denken des Kommenden möglich – ein Schreiben des beinahe Unverständlichen, das den wenigen Verstehenden die Gelegenheit zu dem Bewusstsein gab, zu einer Avantgarde des Denkens zu gehören. Bücher, die ihre wahre Leserschaft erst in der Zukunft finden sollten, waren damals verlockend – heute sind sie unmöglich. Sie müssen stattdessen im Speeddating des intellektuellen Netzes, dessen Teil sie geworden sind, schon an der Oberfläche zugänglich sein, müssen zum Denken verführen können.
So zu schreiben ist nicht leicht, wenn man gleichzeitig forschen und seriös sein will. Aber was ist die Alternative? Eine bloße Rückbesinnung auf die Zeit der Bücher genügt nicht, um zu verhindern, dass über kurz oder lang Intellektuellenbücher in Kleinstauflagen und Forschungsbücher im Orkus der Datenbanken verschwinden. Also liebe Autoren, ran an die Arbeit!
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Redaktionelle Umsetzung: CvD
Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 12. Juli 2017