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Professor Dr. Udo Göttlich ist seit Oktober 2011 nach verschiedenen Gastprofessuren in Klagenfurt, Hildesheim und München Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Zeppelin Universität. Seine Schwerpunkte liegen im Verhältnis und Zusammenhang von Medien- und Gesellschaftswandel.
Die Öffentlichkeit steht einmal mehr in der Diskussion. Diese Auseinandersetzung betrifft insbesondere auch die Rolle und die Zukunftsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dass es eine Diskussion über die öffentliche Kommunikation gibt, ist dabei so ungewöhnlich nicht. Vielmehr erfolgt die aktuelle Debatte über die öffentliche Rolle neuer Kommunikationsmedien vor dem Hintergrund der Entstehung, Entwicklung und Durchsetzung eines spezifischen, medienpolitisch gewollten und laufend weiterentwickelten Leitbilds als Voraussetzung für die demokratische Selbstbestimmung der Bürger.
Viele der Veränderungen durch den „digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ sind dabei noch nicht einmal neu. Klagen über den Zerfall der Öffentlichkeit setzten bereits mit der Zulassung privater Rundfunkanbieter Mitte der 1980er-Jahre ein. Gegenwärtig aber verstärkt sich die Fragmentierung der Publika mit der Ausbildung zahlloser individualisierter Teilöffentlichkeiten durch den Erfolg diverser Netzplattformen und weiterer sogenannter „Informationsintermediäre “, denen eine disruptive Wirkung für die öffentliche Kommunikation zugeschrieben wird.
Aus öffentlichkeitstheoretischer Perspektive möchte ich im Rahmen dieses Beitrags die jeweiligen Mechanismen der massenkommunikativen und der digitalen Öffentlichkeit gegenüberstellen. Die Frage, der ich dabei nachgehe, lautet, wie eine Vermittlung dieser, sich gegenwärtig scheinbar ausschließender Kommunikationsweisen, aussehen kann.
Die im Vordergrund meiner Betrachtung stehende Frage nach den Möglichkeiten eines neuen „Kommunikationsvertrags“ geht auf Elizéo Veron (1985) zurück, der den Ausdruck „contrat de lecture“ (Lesevertrag) auf unterschiedliche Medienangebote angewandt hat, um deren Leistung für die gesellschaftliche Diskursordnung zu ermessen. Hierbei ist er davon ausgegangen, dass der Produktion und Nutzung von Medien jeweils ein eigener „Kommunikationsvertrag“ zugrunde liegt, der sich aufgrund von alltäglichen Praktiken im Umgang mit Medien zwischen Produzenten und Nutzern herausgebildet hat.
Der Unterschied journalistischer Kommunikation zu anderen Formen massenmedial vermittelten Kommunikationen – wie etwa Unterhaltung – besteht danach darin, dass dieser Lesevertrag dem Modus der Wahrheit folgt. Alles, was Journalisten verbreiten, ist nicht nur nach professionellen Regeln konstruiert, sondern folgt Darstellungskonventionen für Ereignisse, die gerade dadurch als „glaubhaft “erscheinen. Dieser Vertragsschluss zwischen Produzenten und Rezipienten, der immer auch Veränderungen ausgesetzt war – unter anderem erkennbar an der Entwicklung unterschiedlicher journalistischer Stile – gelingt deswegen, da journalistische Kommunikation für Nutzer anhand gemeinsam geteilter kultureller Regeln als „wahr“ interpretiert werden kann. Es handelt sich um aus Routinen und Habitualisierungen hervorgegangene Darstellungskonventionen, die wechselseitige Verständigung sichern.
Eine These zum aktuellen Widerstreit kann damit lauten, dass wir uns in der Phase der Ausbildung neuer Kommunikationsverträge befinden, für die Regeln noch nicht gefunden sind, während alte Verträge bereits aufgekündigt werden. Mit der Pluralisierung von Wirklichkeitsdarstellungen durch verschiedene neue, „journalistisch“ agierende Anbieter ist das Fehlen eines den Internetangeboten entsprechenden Kommunikationsvertrags die zentrale Herausforderung, dessen Ausbildung medienpolitisch und regulatorisch zwar unterstützt, aber nicht einfach hergestellt noch eingeklagt werden kann, da es sich um einen medienkulturellen Prozess handelt, der auch Irrwege kennt und zulassen muss, wenn verbindlich geteilte kulturelle Wirklichkeiten entstehen sollen. Die tradierten Mechanismen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beinhalten in dieser Perspektive bisherige medien-, kommunikations- beziehungsweise lesevertraglich geregelte Umgangs- und Zugriffsweisen, verraten aber nichts über deren zukünftige Tauglichkeit noch wie man sie anpassen kann. Die Art der „Kommunikationsverträge“ spiegelt also bisherige gesellschaftliche Lernprozesse im Umgang mit Unsicherheit.
Die Wiedergewinnung von Sicherheit entscheidet sich damit also nicht an Medienbegriffen und damit verbundenen regulatorischen Eingriffen allein, sondern an den durch die Medien und deren Logik(en) ermöglichte gesellschaftliche und kulturelle Lernprozesse im Umgang mit neuen und veränderten Formen der öffentlichen Kommunikation, an denen alle gesellschaftlichen Gruppen teilnehmen beziehungsweise ihnen unterworfen sind; und zwar durch öffentliche Kommunikation.
Worum es damit also geht, ist die Weiterentwicklung eines Ordnungsmodells, dass die Klammer für die Stärkung, wenn nicht gar Aufrechterhaltung einer diskursiv geprägten Öffentlichkeit als Garant demokratischer Ordnung unter Bedingungen digitaler Netzwerkkommunikation bildet. Dafür gilt es, die Vorstellung einer Funktionslogik der Öffentlichkeit, der die medienpolitische Ausrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zugrunde liegt, ins Verhältnis zu setzen mit den Herausforderungen der neuen Funktionslogik verschiedener Formen digitaler Kommunikation.
Bezieht man den Widerstreit indes weiterhin allein aus einer Störung eines Prinzips oder einer Logik von öffentlichem Rundfunk, dann verkennt man, dass es unter den neuen Bedingungen auf die Entwicklung eines spezifisch neuen, auf die Folgen der Entgrenzung und Pluralisierung antwortenden Leitbilds ankommt, für das Kommunikationsverträge erst zu schließen sind. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seine Rolle in diesem neuen Rahmen trotz zahlreicher Anstrengungen noch nicht gefunden.
In einer solchen Lage auf zwei, sich erst allmählich miteinander vermittelnde Logiken zu setzen, ist gewiss nicht der falscheste Weg, wenn aus Fehlentwicklungen Lernprozesse für den „richtigen“ Umgang angestoßen werden sollen. Das gilt insbesondere dann, wenn entgegen früherer Erwartungen die Partizipation an öffentlicher Kommunikation durch digitale Medien qualitativ keinesfalls gewonnen hat. Angesichts zahlreicher Fehlentwicklungen gilt eher das Gegenteil.
Aber auch die bloße Behauptung einer Destabilisierung der Öffentlichkeit durch digitale Kommunikation und deren Einflussnahme auf die Meinungsbildung ist kritisch zu sehen. Ausgeblendet wird etwa, dass die Fragmentierung der Öffentlichkeit – in ihr Gegenteil gewendet – überhaupt eine der Voraussetzungen zum Umgang mit Meinungsvielfalt war, der sich im Wechsel- und Gegenspiel von Teilöffentlichkeiten zeigt. Weshalb die Prozesse der digitalen Kommunikation in dieser Perspektive eher als disruptiv wahrgenommen werden, liegt daran, dass sie den Fokus auf individuelle Interessen und Meinungen legen und weniger auf die Themen des kollektiven Interesses, die res publica abzielen, in der sich Bürger über die Dinge von allgemeinem Belang rational austauschen.
Gerade für diesen zuletzt genannten Punkt fällt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk beziehungsweise genauer dem öffentlich-rechtlichen Leitbild weiterhin eine besondere Rolle zu. Handelt es sich doch dem Grunde nach um eine medien- und kommunikationspolitische Ordnungsvorstellung, die zum Prüfstein nicht nur der Leistungsfähigkeit der Massenkommunikation wurde, sondern das Ideal einer demokratischen Teilhabe unter Bedingungen von Massenkommunikation regelte. Die „individuellen Öffentlichkeiten“ der Netzmedien jedenfalls vermögen genau das (noch) nicht zu leisten, weil sie thematische Verinselungen miteinander vernetzter Individuen bestärken, die zudem die Konfrontation mit dem Außen scheuen und sich dem Mechanismus demokratischer Meinungsbildung in der Auseinandersetzung um das bessere Argument widersetzen. Das Allgemeininteresse und die Meinungsvielfalt scheinen ihnen fremd oder sogar als gegnerisches Ziel.
Während die Pioniere der Netzmedien eine unserer Zeit entsprechende Form der Kommunikation im „always online“ als Voraussetzung für Informiertheit vermuteten, ist und bleibt unter aktuellen Bedingungen die lineare oder „einseitige Form“ der Massenkommunikation ein notwendiges Korrektiv, weil sie entscheidende Gedächtnis- und Thematisierungsfunktionen für die Gesellschaft leistet. Und auch die Netzmedien benutzen im Übrigen die Angebote der Massenkommunikationsmedien als Themenreservoir. Wie das Zusammenspiel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit Netzplattformen an dieser Stelle funktionieren kann, beginnen wir dabei gerade erst zu verstehen.
Mehr als jemals zuvor kommt es in dieser Situation darauf an, dass die Zivilgesellschaft und die Staatsbürger nach Mitteln und Wegen suchen, die Leistung öffentlicher Kommunikation an die modernen Kommunikationsbedingungen anzupassen. Gelingen kann das, wenn wir verstehen, dass das Entstehen und Vergehen gesellschaftlicher Kommunikationsverträge dazu gehört, ohne dass dieser Prozess immer auch gezielt geplant werden kann. Vielmehr müssen sich neue Kommunikationsverträge aus der gesellschaftlichen Kommunikation im Widerstreit entwickeln und durchsetzen. Phasen der Unsicherheit sind dabei trotz aller Risiken und Gefährdungen nichts Ungewöhnliches.
Der Artikel ist am 31. Oktober 2018 unter dem Titel „Für einen neuen Kommunikationsvertrag“ auf dem SWR2 DOKUBLOG erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Udo Göttlich
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm