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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Geht es nach Wilhelm von Humboldt, dann ist die Universität die Einheit von Lehre und Forschung, von Wahlfreiheit und – eben – universeller Bildung. Dabei ist die Idee der Universität weit älter als der preußische Gelehrte. Doch welches Bildungsideal steht überhaupt für das 21. Jahrhundert? Ist die Humboldtsche Idee schon tot – und ihre Nachfolger wohlmöglich auch?
Keine Institution hat während der halben Jahrhunderte vor und nach 1900 in den westlichen Nationen größeres Prestige genossen als die Universitäten, weil sie als Garanten einer positiven Zukunft galten. Die Universitäten von heute hingegen sind – trotz Reformbemühungen im Dauerzustand – grau geworden unter hartnäckigen Wolken von Dysphorie und dienen als Sündenböcke für alle Arten von Frustrationen, zumal eine vage Erinnerung an ihre große Vergangenheit sich nicht verziehen will. Denn Wilhelm von Humboldts Idealbild, an dem sie sich seit dem Ausgang der Aufklärung orientiert hatten, wirkt weiter als ein Kontrasthintergrund, vor dem die Mängel der Gegenwart umso schmerzhafter sichtbar werden. Statt in Humboldts Sinn primär auf die Innovation von Wissen ausgerichtet zu bleiben, sind die Universitäten zur obligatorischen Vermittlungsagentur „höheren“ Berufs-Wissens geworden – und entwickeln sich doch seit einiger Zeit in wachsender Asymmetrie zu den Arbeitsmärkten. Statt aus der direkten Begegnung von Professoren und Studenten als ihrer Keimzelle intellektuelle Energie zu schöpfen, haben sie in vorauseilend naiver Begeisterung elektronische Kommunikation als ihr neues Zentrum etabliert. Und schließlich legten sich in den vergangenen Jahren die unnachgiebigen Höflichkeitsverschreibungen der „politischen Korrektheit“ wie eine Lähmung über die früher ausschlaggebende Innovationskraft des riskanten Denkens.
Inmitten dieser deprimierenden Dekadenzszene können Hochschulen in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz als bemerkenswerte Sonderfälle gelten. Dies lässt sich vielfach statistisch belegen und findet Resonanz in ihrer internationalen Reputation, obwohl explizite Anerkennung und auch die Frage, welche (möglicherweise konvergenten) Bedingungen sich hinter dem Erfolg verbergen, sehr verhalten geblieben ist. Die Zahl der ernstzunehmenden Universitätsrankings mit globalem Horizont geht heute in die Hunderte, aber bei allen Differenzen der Kriterien findet man regelmäßig um die dreißig privaten amerikanischen Hochschulen unter den 50 am höchsten bewerteten Institutionen. Andererseits gibt es kaum ein Ranking, das die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich nicht an der Spitze der kontinentaleuropäischen Universitäten platziert, und dieses Bild findet Bestätigung selbst in Gesprächen mit Vertretern von Fächern außerhalb der Ingenieurswissenschaften. Hinzu kommt im Fall der Schweiz, dass eigentlich alle Hochschulen des Landes zumindest europaweites Ansehen genießen – während sich die Vereinigten Staaten als global „führend“ auch im Hinblick auf solche „Universitäten“ erweisen könnten, die weder ihren Namen noch die erhobenen Studiengebühren verdienen.
In der Tat gehen die Parallelen nicht sehr weit. Der glänzende Ruf der Schweizer Universitäten ist der Ruf eines staatlichen Systems; zu den amerikanischen Spitzenuniversitäten dagegen gehört mittlerweile keine mehr, die von einem einzelnen Bundesstaat finanziert wird (Universitäten im Auftrag und auf Kosten der Nation darf es in Amerika aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geben) – selbst die zurecht berühmte University of California in Berkeley oder die University of Virginia in Charlottesville sind aufgrund staatlicher Unterfinanzierung weit zurückgefallen. Diese Divergenz macht vorab klar, dass wir so etwas wie „eine gemeinsame Erfolgsformel“ keinesfalls entdecken werden. Wenn neben ihrer Qualität ein bestimmter Aspekt der aktuellen Situation die Hochschulen der Schweiz und die besten amerikanischen Universitäten verbindet, dann wohl die Tatsache, dass ihnen die typischen Herausforderungen von heute nicht erspart geblieben sind. Sie alle haben trotz der längst globalen Trends zur Umstellung auf berufliche Ausbildung, trotz der Aushöhlung der Lehre durch elektronische Kommunikation und trotz der sich verhärtenden politischen Korrektheit ihr Niveau gehalten und sogar weiterentwickelt.
Doch hier enden die Gewissheiten. Bei der Frage nach den je verschiedenen Gründen der Exzellenz müssen wir uns mit ersten Thesen auf ein Terrain von noch wenig bearbeiteten Kontexten und Horizonten wagen. Die ausschlaggebende, aber den Erfolg keinesfalls sichernde strukturelle Voraussetzung für die Exzellenz der besten amerikanischen Universitäten liegt, glaube ich, in der strikten Absetzung des „College“ von den „Professional Schools“, in einer Distanz, für die es außerhalb der Vereinigten Staaten kein Äquivalent gibt und die deshalb nur selten in all ihren Konsequenzen verstanden wird. Vier Jahre College, welche etwa für die Hälfte der jungen Amerikaner auf den Abschuss der High School folgen, sollen idealerweise das Wissen in allen Bereichen vermehren (sie sind als „Studium generale“ konzipiert) und zu einer Schwerpunktbildung („Major“) leiten, die nie ausschließlich wird – ein Major in Human Biology zum Beispiel gilt natürlich als gute Vorgabe für das Medizinstudium, wird aber nie grundsätzlich gefordert. Je nach Ansehen der verschiedenen Colleges eröffnet schon dieser Lehrplan Chancen auf dem Arbeitsmarkt, soll aber im Prinzip durch die Berufsausbildung an einer Professional School fortgesetzt werden, für die man sich an einer anderen akademischen Institution bewerben muss.
Ohne dass Wilhelm von Humboldts Universitätsvision in den Vereinigten Staaten je besondere Resonanz gefunden hätte, kommt ihr das College-Ideal einer umfassenden Persönlichkeitsbildung in täglich enger Zusammenarbeit zwischen Kommilitonen und Professoren erstaunlich nahe – eben weil das College auf Distanz zur Berufsausbildung gesetzt bleibt. Die geschichtlichen Ursprünge dieser Sonderform von Bildung liegen allerdings im Dunkeln. Denn die ersten amerikanischen Hochschulen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts waren eindeutig der Berufsausbildung (vor allem – wie etwa Harvard – der Ausbildung zum Geistlichen) unterstellt, und erst nach 1900 lassen sich wesentliche Strukturen des College identifizieren, besonders die von allen Studenten zu belegenden Vorlesungen über „Große Werke“ des westlichen Bildungskanons. Mir scheint die Vermutung plausibel, dass das College – ganz ohne Programm – als Ausgleich für den Mangel eines nationalen Bildungssystems entstanden ist. Weil nicht davon auszugehen war, dass die Studenten aus so verschiedenen Regionen, Kulturen und sozialen Schichten eines großen Landes ihr berufsausbildendes Studium mit vergleichbaren Voraussetzungen beginnen konnten, wurde es notwendig, der Berufsausbildung Lehreinheiten der allgemeinen Bildung vorauszuschicken, die sie alle verbinden sollten. Und so entstand das College als ein hochschulpädagogischer Rahmen, der – im besten Fall – die Studenten zu vieldimensionalen Intellektuellen macht, bevor sie sich der Vorbereitung auf einen Beruf zuwenden.
Heute freilich muss die College-Konzeption selbst auf Eliteniveau gegen die Tendenz der Studenten (und meist auch ihrer Eltern) verteidigt werden, die vorgeschalteten vier Jahre Bildung durch Spezialisierung in eine vorweggenommene Berufsausbildung umzuformen. Zugleich sind bei den Spitzeninstitutionen der Andrang auf Zulassung und die für jeden College-Studenten zu veranschlagenden Finanzen drastisch gestiegen. Selbst Studiengebühren von mehr als 60.000 Dollar pro Jahr decken weniger als die Hälfte der objektiv entstehenden Kosten -- und die Stanford University beispielsweise rechnet heute mit weit über 40.000 hochqualifizierten Bewerbern für weniger als 2.000 freie Studienplätze.
Es sind drei komplexe Strategien, mit denen die besten Colleges diesen doppelten Druck bisher überlebt haben. Einfach die Studienplätze zu vermehren, gilt immer noch als verpönt, weil so die intellektuelle Qualität – und natürlich auch das ganz ohne schlechtes Gewissen anvisierte Exklusivprestige – verwässert würden. Da man aber davon ausgeht, dass Qualität und Prestige langfristig von der Fähigkeit abhängen, die intellektuell leistungsfähigsten Studenten zu gewinnen, haben einige besonders reiche Universitäten mittlerweile ihre Studiengebühren an das Einkommen der jeweiligen Familien gebunden. Liegt es unter 100.000 Dollar pro Jahr, sind in Stanford oder Harvard keinerlei Studiengebühren zu entrichten (was natürlich nur möglich ist, weil sich solche Hochschulen auf jährliche Spenden in Milliardenhöhe verlassen können). Zweitens hat sich die Tendenz zur institutionellen Diversifizierung im Wettbewerb um die besten Bewerber weiter ausgebildet: Yale, Princeton, Harvard oder Stanford streben alle nach der höchstmöglichen Kompetenz ihrer Lehrer, betonen aber auch noch deutlicher als früher die Besonderheiten ihres je spezifischen intellektuellen Stils und ihrer kulturellen Stimmungen. In Princeton kann man Seminare bei einer Nobelpreisträgerin der Literatur belegen, und in Harvard haben Studenten die Chance, in Forschungsprojekte von früheren Spitzenpolitikern integriert zu werden. Wenn es Stanford früher beinahe peinlich war, vor allem in den Ingenieurswissenschaften erfolgreich zu sein oder Weltklasseathleten unter den Studenten zu haben, so gehört beides inzwischen zu den positiven Dimensionen der eigenen Identität.
Vor allem aber kann es sich keine Universität mehr leisten, bei der Zulassung von Studenten und der Berufung von Dozenten Zugeständnisse gegenüber dem Hauptkriterium intellektueller Leistungsfähigkeit zu machen – so schwierig dies im Zeitalter radikaler Gleichheit unter den „Identitäten“ geworden ist. Kandidaten aus der eigenen Institution brauchen sich um ausgeschriebene Stellen erst gar nicht zu bewerben, und Schüler befreundeter Hochschullehrer haben weniger Chancen als zuvor unbekannte Kandidaten; auch Versorgungsgründe oder Staatsangehörigkeit sollen keine Rolle spielen. Selbstredend gelingt es nicht immer, die objektiv besten Bewerber zu finden – doch selbst mittelmäßigen Institutionen käme es nicht in den Sinn, Berufungsverfahren unter anderen Kriterien abzuwickeln.
Auch wenn die ETH Zürich heute durchaus ihren amerikanischen Konkurrenten den Spitzennachwuchs streitig macht, ist der Leistungsdruck für die staatlichen Universitäten in der Schweiz vergleichsweise mild geblieben. Wie ist es ihnen trotzdem gelungen, ihre europäische Führungsposition weiter auszubauen? Möglicherweise – und paradoxerweise vielleicht – kommt in der Schweiz die Energie von Wettbewerb und Weiterentwicklung gerade aus einer Richtung, die im Gegensatz zur eher chaotischen Landschaft der amerikanischen Hochschulen steht: nämlich aus der Binnenstruktur eines nationalen Universitätssystems, das auf Gleichheit mit kantonal lokaler Differenzierung setzt. Ob sich ein Hochschullehrer oder ein Student für Zürich oder Lausanne, für Genf oder Fribourg, für Luzern oder Lugano entscheidet, erscheint zunächst weniger evident – und hat weniger einschneidende Konsequenzen – als dies in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Doch gerade aufgrund ihrer Gleichheitsprämisse sehen sich die Schweizer Universitäten angehalten, intellektuelle und kulturelle Besonderheiten zu betonen – zu denen natürlich auch die verschiedenen nationalen Sprachen gehören.
Daneben hat die Schweizer Kulturpolitik früher als andere europäische Nationen den zeitweise beinahe selbstverständlichen Übergang vom Gymnasium zur Universität gedrosselt. Das hat dem Prestige jener Berufe genutzt, die kein akademisches Studium voraussetzen, und den Universitäten gerade noch rechtzeitig die Chance gegeben, ihren traditionellen Fokus auf Wissensinnovation nachzujustieren. Neben diesen Unterschieden der institutionellen Form fallen auch zwei Konvergenzen mit den Vereinigten Staaten auf. Ohne auf eine College-Tradition zurückblicken zu können, haben die prominentesten Hochschulen der Schweiz der unvermeidlich fortschreitenden Spezialisierung nicht den Horizont einer weiterreichenden Bildung geopfert. Die ETH Zürich etwa hat sich nach ausführlichen Diskussionen für die Erhaltung ihrer geisteswissenschaftlichen Lehrstühle entschieden, und die Hochschule St. Gallen hält als eine kontinental führende Wirtschaftsuniversität an der Verpflichtung ihrer Studenten fest, Seminare in Fächern wie Philosophie, Geschichte oder Kunstwissenschaft zu belegen.
Was die Schweiz und die Vereinigten Staaten darüber hinaus – und angesichts der Qualität ihrer Universitäten: ironischerweise – vereint, scheint so etwas wie ein akademisch-nationaler Minderwertigkeitskomplex zu sein. Vor einigen Jahren habe ich erlebt, dass die Verwaltung der Stanford University den Ruf einer Universität aus der südwestdeutschen Provinz für ehrenvoller und attraktiver hielt als ein Angebot aus Yale. Im Blick auf die Schweiz bin ich immer wieder verwundert (und oft auch enttäuscht), dass die Kollegen hochqualifizierten jungen Bewerbern aus dem Inland weniger zutrauen als ihren externen Konkurrenten. Gibt es ein halbbewusstes Vorurteil, das nationale Exzellenz ausschließlich mit dem Finanzmarkt, der Uhrenindustrie und dem Luxustourismus assoziiert – und den Forschergeist jenseits der eigenen Grenzen vermutet?
Sicher bedürfte ein solches Vorurteil der Revision. Aber eine Zeit lang mag es positive Folgen gezeitigt haben – als eine produktive Entgrenzung des Blicks auf die international qualifiziertesten Studenten und produktivsten Forscher in jeder Generation.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm