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Konservativ, Utopisch, Melancholisch

Nabelschnur zum Kosmos

Wie könnte eine Alternative zur doppelt populistischen Reaktion auf das Universum von Kontingenz aussehen, eine Alternative, die sich nicht in der ,konservativen‘ Wiederholung von wirkungslosen Gemeinplätzen erschöpft, in der Wiederholung von degenerierten Erinnerungen und Werten aus Traditionen der Aufklärung?

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.  

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Zwei ganz verschiedene, aber doch konvergierende Antworten auf die Frage, wie wir heute das Wort „konservativ“ gebrauchen, sind uns allen vertraut – so sehr vertraut, dass man sie einerseits nicht unerwähnt lassen kann, obwohl andererseits ihr verbleibendes Entwicklungspotential aus jeweils spezifischen Gründen durchaus begrenzt ist. „Konservativ“ heißt weiterhin jeder Akt, der bewusst oder vorbewusst als Gegengewicht zur allgemeinen Fortschrittsannahme des historischen Weltbilds eingesetzt wird, wie es sich um 1800 formiert und institutionalisiert hatte (was die Entstehung des geläufigen Begriffs „konservativ“ in eben jener Zeit plausibel macht). „Konservativ“ zeigt aber auch – im deutlich wörtlicheren Sinn – auf alle ökologisch inspirierten Positionen und Verhaltensweisen, weil es ihnen ja ausnahmslos um die Bewahrung eines bedrohten Ist-Stands der Natur geht. Ich möchte zunächst erklären, warum mir eine Rückkehr zu diesen beiden Begriffsgebräuchen nicht mehr ergiebig scheint, so sehr ich an einigen der aus ihnen abgeleiteten Werte und Ziele hänge. Danach versuche ich, einen Begriff des „Konservativen“ zu entwickeln, der ein Gegenprogramm zu jenen politischen Formen abgeben soll, die wir Intellektuellen heute gerne „populistisch“ nennen.


Für beinahe obsolet halte ich also den immer noch häufigsten Begriffsgebrauch von „konservativ“, weil er das historische Weltbild und eine Auffassung von der „Zeit“ als unvermeidlichem Agens der Veränderung voraussetzen muss, die – mit nur wenigen Ausnahmen – seit einigen Jahrzehnten nicht mehr unseren Alltag beherrschen, weil sie von einer Zeitlichkeit ersetzt worden sind, der ich den Namen „breite Gegenwart“ gebe. An die Stelle der offenen Zukunft des historischen Weltbilds als einem breiten Horizont von Möglichkeiten zur menschlichen Wahl und Gestaltung ist in der breiten Gegenwart eine Zukunft voll von (wirklichen oder vermeintlichen) Gefahren getreten, die auf uns zuzukommen scheinen. Den Vergangenheits-Status des historischen Weltbilds, welcher unvermeidlich und immer weiter hinter die jeweilige Gegenwart zurückfallen und dabei seine Orientierungskraft verlieren sollte, hat eine andere Vergangenheit ersetzt, die als Wissen und Dokumentation (nicht zuletzt aufgrund elektronischer Speichermöglichkeit) die Gegenwart überschwemmt. 


Und zwischen der blockierten neuen Zukunft und der aggressiven neuen Vergangenheit ist aus der „unwahrnehmbar kurzen“ Gegenwart des historischen Weltbilds (wie sie Charles Baudelaire beschrieben hatte) eine unbewegt breite Gegenwart der Simultaneitäten getreten. In dieser breiten Gegenwart ohne Fortschrittsdynamik kommt Rückgriffen auf die Vergangenheit keine „konservative“ Funktion mehr zu, was die Konturen der traditionellen politischen Polarität zwischen „fortschrittlichen“ und „konservativen“ Positionen verwischt hat. Gebildete Verweise auf „historische Exempel“ wirken nun nur noch preziös und herablassend.

In Deutschland gibt es politisch konservative Strömungen heute vor allem in den Volksparteien CDU und CSU. Die CDU ist nach ihrem Selbstverständnis seit 1972 von der rechten Mitte in das politische Zentrum gerückt. Die Traditionsstränge der Christdemokratie in Deutschland umfassen eine Mischung aus dem Wertkonservatismus des Katholizismus, Strömungen des politischen Protestantismus sowie aus Wirtschafts-, Ordnungs- und Nationalkonservatismus. Der Begriff „konservativ“ wird auch von den Unionsparteien, obwohl nicht selten als wichtiges politisches Charakteristikum genannt, faktisch nicht weiter konkretisiert. In der SPD wird vor allem dem Seeheimer Kreis eine konservative Position zugeschrieben. Sowohl in der SPD wie auch bei den Grünen gibt es Strömungen, die wertkonservativ argumentieren.
In Deutschland gibt es politisch konservative Strömungen heute vor allem in den Volksparteien CDU und CSU. Die CDU ist nach ihrem Selbstverständnis seit 1972 von der rechten Mitte in das politische Zentrum gerückt. Die Traditionsstränge der Christdemokratie in Deutschland umfassen eine Mischung aus dem Wertkonservatismus des Katholizismus, Strömungen des politischen Protestantismus sowie aus Wirtschafts-, Ordnungs- und Nationalkonservatismus. Der Begriff „konservativ“ wird auch von den Unionsparteien, obwohl nicht selten als wichtiges politisches Charakteristikum genannt, faktisch nicht weiter konkretisiert. In der SPD wird vor allem dem Seeheimer Kreis eine konservative Position zugeschrieben. Sowohl in der SPD wie auch bei den Grünen gibt es Strömungen, die wertkonservativ argumentieren.

Der (andere) Konservativismus der Ökologen ist nur selten tatsächlich von einer Wertschätzung der „Natur an sich“ motiviert. Eher kommt seine Energie aus der – wohl berechtigten – Befürchtung, dass die Präsenz der Menschheit auf dem Planeten Erde zu Schäden und Dysfunktionalitäten seiner Ökosphäre geführt hat, die mittelfristig unser Überleben unwahrscheinlich oder gar unmöglich machen. Dagegen wird in der Regel – politisch durchaus wirksam – das tendenziell auf Ewigkeit gestellte Überleben und mithin das Bewahren der Menschheit als absolut höchster Wert gesetzt, der jegliche Opfer rechtfertigt (und alle Nachgiebigkeit gegenüber ökologischen Normen kriminalisiert). Angesichts unseres evolutionstheoretischen Wissens frage ich mich, wie realistisch es ist, sich „konservativ“ – und das bedeutet ohne Ausnahme: radikal anthropozentrisch – in diesem Sinn zu verhalten. Sollten wir nicht an die Stelle von anthropozentrisch begründeten Ökonormen mit Absolutheitsanspruch die konkrete Frage stellen, bis wann sich unter den hochzurechnenden ökologischen Veränderungen der Zukunft menschliches Leben und der Aufwand ökologisch korrekten Verhaltens lohnt? Und sollte sich daran nicht die – letztlich ästhetische – Frage anschließen, wie es uns gelingen kann, das Ende der eigenen Gattung in Gelassenheit und mit Würde zu erleben?


Unsere neue breite Gegenwart hat nicht nur Folgen für die Art und Weise, wie wir durch den Filter von „Zeit als Form des Bewusstseins“ (diese Formulierung und Definition geht auf Edmund Husserl zurück) die Welt außerhalb des Bewusstseins erleben. Seit dem 18. Jahrhundert hatte der Westen die Momente der kurzen Gegenwart unter der Struktur eines „Feldes von Kontingenz“ erlebt, als konzentriert auf („intentionale“) Objekte des Bewusstseins, die „kontingent“ erschienen, weil wir sie unter vielfachen Perspektiven interpretieren und in Beziehung zu uns setzen konnten; und zugleich als umgeben (daher „Feld“) von Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen, das heißt als umgeben von intentionalen Objekten, die entweder keine Vielfalt von Interpretationen zuließen („Notwendigkeit“) oder keine Assoziation mit dem realen Leben der Menschen („Unmöglichkeit“).

Nicht ausschließlich, aber doch wesentlich unter dem Einfluss der elektronischen Technologien ist aus dieser Gegenwart als Feld der Kontingenz ein Universum der Kontingenz geworden, in dem sich das früher Notwendige (oder Schicksalhafte) zunehmend als ein Gegenstand der Wahl präsentiert (zum Beispiel der individuellen Wahl des biologischen Geschlechts) und das früher Unmögliche den Status von Zukunftsprojekten annimmt (zum Beispiel mit der Herbeiführung des zeitlich unbegrenzten biologischen Lebens der Menschen als Forschungsaufgabe für die Medizin). Mit diesem Schmelzen der Pole „Notwendigkeit“ und „Unmöglichkeit“ vollzieht sich ein ungeheurer Zuwachs an menschlicher Freiheit, den wir schätzen – und nicht verspielen – sollten. Zugleich aber überfordert uns die zum Universum der Kontingenz gewordene Gegenwart als eine nicht mehr aussetzende Herausforderung der Urteilskraft durch Überkomplexität.


Und diese Überforderung, meine ich, steht als permanente Frustration hinter einer neuen Sehnsucht, das Urteilen und die Argumente mit der Abkürzung eines Festhaltens an elementaren Werten und vermeintlich großen Gestalten zu ersetzen, sie steht hinter jener Sehnsucht, die wir „populistisch“ nennen. Auf eine solche Disposition hat der neue Stil populistischer Politik reagiert, der – aus traditioneller Perspektive gesehen – konservative („rechte“) und fortschrittliche („linke“) Elemente vermischt. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel kann die populistische Politik des gegenwärtigen Präsidenten in Anspruch nehmen, mit ihrer gezielten Zuwendung auf verarmte Schichten der ehemaligen Arbeiterklasse „fortschrittlich“ zu gelten, während ihr Spiel mit persönlicher Autorität und deren Resonanz an gewisse „konservative“ Züge des Faschismus erinnert.

In den USA verkörpert die Republikanische Partei den Konservatismus. Die Republikaner wollen christliche Werte erhalten – allerdings identifizieren sich auch Anhänger anderer Religionen, wie beispielsweise orthodoxe Juden, mit der konservativen Bewegung. Das Recht, Waffen zu tragen, welches in der Verfassung festgeschrieben ist, wird unterstützt und eine liberale Wirtschaft propagiert. Eine weitere in den USA weit verbreitete Strömung ist der Neokonservatismus, welcher militärische Interventionen im Ausland befürwortet.
In den USA verkörpert die Republikanische Partei den Konservatismus. Die Republikaner wollen christliche Werte erhalten – allerdings identifizieren sich auch Anhänger anderer Religionen, wie beispielsweise orthodoxe Juden, mit der konservativen Bewegung. Das Recht, Waffen zu tragen, welches in der Verfassung festgeschrieben ist, wird unterstützt und eine liberale Wirtschaft propagiert. Eine weitere in den USA weit verbreitete Strömung ist der Neokonservatismus, welcher militärische Interventionen im Ausland befürwortet.

Wie könnte eine Alternative zur doppelt populistischen Reaktion auf das Universum von Kontingenz aussehen, eine Alternative, die sich nicht in der „konservativen“ Wiederholung von wirkungslosen Gemeinplätzen erschöpft, in der Wiederholung von degenerierten Erinnerungen und Werten aus Traditionen der Aufklärung? Ein solch anderer konservativer Stil, schlage ich vor, sollte auf die individuelle und kollektive Utopie setzen, die Welt an der kosmologisch richtigen Stelle zu bewohnen statt sie zu interpretieren, zu beherrschen und zu verändern. Dieser Stil ist konservativ, weil er sich vom Traum eines Zustands vor der Kultur (oder an ihrem unmittelbaren Beginn) locken lässt, als wir Menschen wahrscheinlich noch nicht Beobachter, sondern (ungefähr im Sinn Heideggers) Bewohner der materiellen Welt waren; er ist utopisch, weil ihn Wellen von erfüllender Intensität durchziehen und beleben, „als hätten wir unsere Nabelschnur zum Kosmos wiedergefunden“, wie eine Studentin ganz in Ruhe sagte, um den englischen Begriff „Bliss“, das Seminarthema, auszulegen; und melancholisch ist dieser Horizont, weil ganz anders als beim gängig gewordenen Populismus zu ihm die Ahnung gehört, dass innerhalb des Universums von Kontingenz Erfüllung nie über kurze Momente hinaus zu einem permanenten Zustand werden kann.


Dass es sich dabei nicht um ein „politisches“ Projekt im Sinn der Durchsetzung oder Einholung gemeinsamer Interessen handelt, versteht sich. Andererseits bleibt die andere konservative Option nicht in individueller Vereinzelung oder gar Einsamkeit stecken. Vielleicht ist sie im Gegenteil sogar auf verschiedene Modalitäten physischer Ko-Präsenz angewiesen: von ekstatischen Augenblicken in Zweierbeziehungen, die dem Ich erlauben zu verschwinden; über die Situation geteilter Inspiration im Gespräch um einen Seminartisch oder auf dem Spielfeld einer Mannschaft; bis hin zu jenen Momenten, wo die Zuschauer in einem Stadion zu einem mystischen Körper werden (jenen Momenten, ohne die ich mir – trotz aller Risiken der Gewalt – mein Leben nicht vorstellen möchte).


Diese Utopie wird, wenn auch nur peripher, immer wieder zur Realität statt auf der Distanz einer Illusion zu verharren. Und dafür ist sie auf ästhetische Erfahrung angewiesen. Nicht unbedingt oder primär auf die autonome ästhetische Erfahrung der Opernhäuser und der Galerien, sondern vor allem auf jene Phasen im Alltag, wo wir die Gelassenheit finden, um uns aus der existentiellen Verdünnung der beinahe permanent gewordenen Lebensform einer Verfugung zwischen Bewusstsein und Software im Universum der Kontingenz wieder auf unsere Sinne zu verlassen – die wir allerdings ohne Bewusstsein nicht erleben können.

Titelbild: 

| Roman Kraft / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

Olaf Kosinsky / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0 de) | Link

| Frank McKenna / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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