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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Aus einer Daguerreotypie schaut uns der leibhaftige Alexander von Humboldt an, den die Zeitgenossen nach der Universalität des Wissens einen „neuen Aristoteles“, nach dem Gewicht seiner Entdeckungen den „zweiten Kolumbus“ nannten – und dessen Geburtstag an diesem 14. September zum 250. Mal wiederkehrt. Der betagte Humboldt mit der großen Halskrause blickt mit Ernst auf die Welt vor ihm, aber vor allem mit Augen wachen Interesses, so als ob er eine Frage erwarte. Der Eindruck dieser Doppelgeste von Zuwendung wiederholt sich in vielen Porträts als Fokus der Konzentration und als Einladung, näher zu kommen.
An seiner physischen Präsenz war dem in der Jugend kränkelnden Alexander von Humboldt durchaus gelegen, vor allem weil sie ihm die Möglichkeit gab, sich extremen Bedingungen der Landschaft und des Wetters auszusetzen: „Die Tropenwelt ist mein Element“, berichtete er aus dem heutigen Venezuela, „und ich bin nie so ununterbrochen gesund gewesen als in den letzten zwei Jahren. Am Atabapo, wo die Wilden stets am Faulfieber leiden, widerstand meine Gesundheit unbegreiflich gut.“ Zugleich muss von Humboldt gewusst haben, wie sehr ihm körperliche Gegenwart die Faszination seiner Mitmenschen schenkte. Während des revolutionären Frühjahrs von 1848 wollten die protestierenden Berliner ihn – mehr als den König – auf dem Balkon des Schlosses sehen. Und der fast 80-Jährige erschien, um sich stumm zu verbeugen.
„Jeder Mann hat die Pflicht, in seinem Leben den Platz zu suchen, von dem er seiner Generation am besten dienen kann“, schrieb er an einen Kollegen in Frankreich. Nicht dem Vaterland als Raum eines Volkes wandte sich Alexander von Humboldt in jener Zeit der patriotischen Exzesse zu. Denn sein Vaterland, das den Großvater, einen Offizier, in den Adelsstand erhoben hatte, war das Preußen des damals entstehenden Bildungsideals, für das Erwerb von Wissen Grundlage für die Entstehung von Individualität werden sollte. Ihm und seinem älteren Bruder Wilhelm, dem späteren Sprachphilosophen und Gründer der Universität zu Berlin, eine solche Bildung zu geben, galt den Eltern als wichtigstes Lebensziel. Dabei unterschätzten sie lange Alexanders besondere Begabung, die eher von Tieren, Pflanzen und Mineralien eingenommen war als von den Texten des klassischen Altertums. Nicht Jura wie sein Bruder sollte er deshalb in Frankfurt an der Oder studieren, sondern Kameralwissenschaft als Weg zu einem Verwaltungsamt. Doch ohne sich zu widersetzen, hat er seinen Interessen an den konkreten Dingen der Welt eine neue Form der Wissenschaft abgewonnen, in der die physische Nähe der Beobachtung unendliche Fragen, Spekulationen und Gespräche inspirierte. Keine Grenzen waren diesen Gesprächen gesetzt, weil Alexander von Humboldt mit Leidenschaft fremde Sprachen bewohnte und mit Takt, ja Diplomatie den Männern begegnete, die seinen Durst nach Wissen und Verstehen teilten. Hier lag das Medium seiner Liebe, an die Gründung einer Familie hat er nie gedacht.
„Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten astronomische Beobachtungen machen können. Das alles ist aber nicht der Hauptzweck meiner Reise. Und auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein“, notierte er am 5. Juni 1799, dem Tag seines Aufbruchs zur Iberoamerika-Expedition. Ottmar Ette, einer der führenden Humboldt-Kenner unserer Zeit, hat betont, wie jenes „Zusammenwirken der Kräfte“ zu der – in anderer Weise grenzenlosen – Perspektive wurde, welche Humboldts Forschung bewegte und andere Jahrhundertgestalten wie Charles Darwin auf den Weg ihres Denkens brachte. Schon bei seiner ersten Anstellung als Assessor für den Bergbau im eben zu Preußen gekommenen Fichtelgebirge und Frankenwald hatte er bahnbrechende chemische Einsichten mit der Entwicklung neuer Instrumente verbunden (etwa einem Vorläufer der Atemschutzmaske), mit erstaunlicher Profitmaximierung – und mit einer Reform der „Hülfskasse“ für Bergleute. Später entstanden aus seiner Analyse der tierischen Elektrizität neue Grundeinsichten der Medizin, aus der Aufmerksamkeit für den Erdmagnetismus eine entscheidende Erweiterung der Kosmologie und aus der Klimaanalyse erste Vermutungen über menschenverursachte Umweltzerstörung.
„Man könnte in acht Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt“ – so reagierte Goethe auf den Redner Alexander von Humboldt, dessen Vorlesungen in Berlin „Stadtgespräch“ waren, sodass sie von der Universität in das tausend Hörer fassende Haus der Sing-Akademie verlegt werden mussten. Die Ergebnisse seiner Forschung und Reflexionen in kraftvoller Sprache, die „das Gemüt ergötzt“, an ein Publikum von Nicht-Spezialisten zu vermitteln, sah er als einen „tollen Einfall“ und zugleich als selbstverständliche, langfristig vorzubereitende Verpflichtung an, und auch hier bewährte sich das Präsenztalent. Es wirkte in der fünfbändigen Summe seiner Weltbeschreibung weiter, die unter dem Titel „Kosmos“ von 1845 bis 1862 veröffentlicht wurde und mit 87.000 in Deutschland verkauften Exemplaren sowie mehreren Übersetzungen zu einem wahren Bestseller ihrer Epoche wurde. Bei allem Erfolg blieb der Autor selbstkritisch: „Die Hauptgebrechen meines Stils sind eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipial-Konstruktion und ein zu großes Konzentriren vielfacher Ansichten, Gefühle in Einen Periodenbau.“
Auch in seiner Zuwendung an die Mitmenschen kannte Humboldt keine Grenze zwischen den Hörern und Lesern, in deren Imagination er unmittelbare Resonanz fand, und der politischen Sorge um andere, denen er nie begegnen sollte. Öffentlich war er als aufklärerischer Liberaler bekannt, was in Berlin zur Folge hatte, dass er bei Hof allein als gebildeter Unterhalter willkommen war, und in Portugal, dass ihm die Krone aus Furcht vor der Verbreitung revolutionärer Ideen die Einreise in ihre südamerikanischen Kolonien verweigerte – während die Monarchien in Madrid und in Sankt Petersburg seine Reisen großzügig unterstützten.
Tatsächlich teilte Alexander von Humboldt 1822 dem Bruder Wilhelm mit, dass er sich ein Leben als Forscher in einem zukünftig republikanischen Mexiko vorstellen könne, wo er zwei Monate nach seinem Tod als einziger Ausländer zum „Benemérito de la Patria“ erhoben wurde. Das Erlebnis eines Sklavenmarkts nach der Ankunft in Südamerika hatte ihn zu einem engagierten Fürsprecher des Abolitionismus gemacht, und in Berlin setzte er den ihm zugestandenen Einfluss am Hof für die Aufhebung verbleibender Strukturen der Leibeigenschaft ein. Bei der Beschreibung fremder Kulturen schließlich gebrauchte auch Humboldt die heute verteufelte ethnozentrische Sprache seiner Gegenwart, doch es steht außer Frage, dass die Erfahrung von Alterität für ihn ein Anlass erregten Interesses war – und nie eine Klippe der Herablassung.
Die urprünglich für dieses Gedenkjahr Alexanders geplante Eröffnung des Humboldt-Forums in der deutschen Hauptstadt, welches die Sammlungen der Museen für Ethnologie und für asiatische Kunst zusammenführen wird, hätte die Erinnerung an sein Genie der Zuwendung und der Präsenz neu erwecken können. Kein anderer Geist hat einer zunehmend von akademischer Blässe bedrohten Wissenschaft mehr Impulse zur belebenden Erfüllung hinterlassen.
Dieser Artikel ist am 8. September unter dem Titel „Alexander der Große“ in der WELT AM SONNTAG erschienen.
Titelbild:
| Julius Schrader / Gemeinfrei | Link
Bilder im Text:
| JensJunge / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht