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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
In der griechischen Antike war Pan der Gott der Viehherden in der Mittagshitze, Gott eines idyllischen und von Hirten behüteten Zustands der Sinnlichkeit und Gott einer Zeitlichkeit, die vergessen hat, was Zeit eigentlich ist: So sehr dominierte in dem Idyll die bloße Gegenwart.
Pan war selbst halb Tier und damit nicht nur Hüter der Herde, sondern auch deren Teil. Als tierhafte Existenz wachte er über eine Welt, die kleiner war, als es einem Gott geziemen würde – und dann auch noch einem Gott mit dem Namen Pan, denn dieses Wort bedeutet im Altgriechischen auch „All“ oder „alles“. Der Gott Pan stand so für ein Paradox: für eine Gegenwart, die allumfassend sein will, aber nicht sein kann.
Doch die idyllische, behütete Gegenwärtigkeit des bloßen Jetzt war allzu selbst-genügsam und viel zu selbst-verständlich. Der Rest der Zeit und der Welt lauerte in jedem Fremdling, jedem Raubtier, jedem Geräusch, jedem Windhauch, und von einem Moment auf den anderen konnte die Rammdösigkeit zusammenbrechen; der Gott fuhr dann in seiner nunmehr wilden und unberechenbaren Form in die Herde. Sie raste grundlos als wilde, zerstörerische Masse los, nicht mehr zu bremsen, und schon gar nicht in der Lage zu Besonnenheit und klarem Urteil. Das Wort „Panik“ leitet sich von dieser Gottheit her.
Wenn es einen Gott gibt, der ein Zeitgefühl der vergangenen Jahrzehnte auf den Punkt bringt, dann scheint es dieser Pan zu sein. Zumindest der globale Norden erlebte sich selbst als ein Alles, das nichts mehr jenseits von sich selber kannte. Auch wenn man Francis Fukuyamas Begriff vom „Ende der Geschichte“ immer wieder kritisierte: Die Zukunft wurde von vielen Menschen nicht mehr als alternativer Möglichkeitsraum verstanden.
Das globale Alles umfasste somit auch die Zeit. Hans Ulrich Gumbrecht hat diesen Zustand als „breite Gegenwart“ beschrieben: als eine Ära, die nicht mehr spürbar in der Lage ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und vor allem die Zukunft aktiv zu formen und zu planen.
Im historistischen oder progressiven Weltbild war das noch bis in die 1970er-Jahre selbstverständlich. In den vergangenen Jahrzehnten aber mutierte die Vergangenheit zu einer Art Vintage, zu einer Sache, die aus keiner Mode mehr geraten konnte, weil sie in jeder Mode schon mitgedacht war. Die Zukunft indessen wurde zu etwas, was man nicht mehr selbst zu gestalten hatte, sondern was der Gegenwart zuweilen widerfuhr – etwa in Form von Terroranschlägen – und dadurch Panik auslösen konnte.
Auch das behütet-idyllische Dasein war ein wesentlicher Bestandteil dieses Zeitgeists. Das Bild der schutz- und behütungsbedürftigen Menschen setzte sich zunehmend auf Kosten eines aufgeklärten Humanismus durch: Politiker sprachen immer weniger von mündigen Bürgern und immer mehr von Menschen, die in irgendeine Richtung mitgenommen werden mussten.
Doch auch die Menschen selber begannen sich zu behandeln, als ob sie gewissermaßen glückliche Haustiere in artgerechter Haltung seien. Sie lernten, sich einem Hier und Jetzt hinzugeben – etwa in Form reiner Intensität und Selbsterfahrung (Extremsport und Reisen ins Fremde), in Form von Pflege und Hege (Wellness- und Partyresorts), meditativer Selbsterfahrung (Tai-Chi) oder schierer Flucht aus der eigenen Wirklichkeit und Verantwortung (einsame Inseln).
Der Humanismus der breiten Gegenwart war insofern einer der „letzten Menschen“ (Nietzsche zitiert von Fukuyama): Den welt- und damit zukunftsgestaltenden Humanismus einer an die Geschichte glaubenden Menschheit ließ die breite Gegenwart zugunsten von Freizeitaktivitäten hinter sich.
Nun ist Pan aber ein sterblicher Gott. Schon zu römischer Zeit berichtete der Dichter Plutarch von der Fahrt des Redners Epitherses auf einem Handelsschiff nach Italien. Das Schiff geriet zur Mittagszeit in eine Flaute, und diese Flaute wiederum war für den ägyptischen Steuermann des Schiffes das Zeichen dafür, eine Wahrheit auszurufen, die später von Kaiser Tiberius durch Nachforschungen bestätigt wurde, nämlich: „Der große Pan ist tot!“ Dem Steuermann schlug ein großes und verwundertes Wehklagen vom Land entgegen.
Plutarch beschrieb dieses Ereignis als ein Orakel. Aber es ist kaum zu sagen, wofür. Nur eines ist sicher, nämlich, dass eine an Pan orientierte Lebensweise sich erschöpft hatte, dass man sich selbst in der Mittagshitze eines abgelegenen Idylls nicht mehr vor den Folgen einer größeren Welt retten konnte, in der ägyptische Steuermänner römische Handelsschiffe an griechischen Inseln vorbeimanövrierten. Während die Welt sich vergrößert hatte, war Pan unbemerkt gestorben.
Auch der Pan, der unsere breite Gegenwart bestimmt, ist sterblich. Spätestens seit dem Coronavirus und der in seiner Folge zu erwartenden Neuorganisation der Weltordnung zuungunsten der westlichen Demokratien scheint die Zukunft wieder ungewiss zu werden.
Überraschend ist das nicht. Vielmehr überrascht, dass es jetzt erst auffällt. Die eigene Existenz (mit Facebook-Freunden aus vielen Ländern), die eigenen Dinge (deren Komponenten von überall herkommen), die eigenen Ferien, Geschäftsbeziehungen, Memes, Videoclips und Einkäufe: Alles war global – aber das Alltagsbewusstsein erlebte diesen Globus als etwas Kleines und Beschauliches, das sich als ein Alles gab.
Auch dass in einer globalen Welt ein Virus, das vor nicht allzu langer Zeit über Jahre oder Jahrzehnte in einem einzigen Landstrich geblieben wäre, in nur zwei Monaten den ganzen Erdball erfassen würde, war eigentlich nur allzu klar. Aber nach dieser Klarheit gehandelt hat fast niemand. Sozial und technisch vernetzt, glaubten wir, uns selbst genügen zu können, und vergaßen geradezu mutwillig unsere biologische und kulturelle Bedingtheit und Verletzlichkeit.
Die Pandemie macht erbarmungslos klar, dass die menschliche Herde nicht in einem ewigwährenden Gegenwartsidyll lebt, sondern sich gegen die Zukunft kaum noch abschirmen kann. Mit der Apokalypse des Johannes gesprochen, lässt sich die Einsicht mit einem Satz auf den Punkt bringen: „Die Zeit ist nahe.“ Ist die Zeit aber nicht mehr auf Distanz zu halten, reagiert die Herde auf die bekannte Weise, nämlich zunächst mit Panik.
Die allererste Antwort auf das Virus war der Klopapierkauf. Die zweite Reaktion waren Herdeninstinkte: Corona-Partys oder die Hoffnung auf Herdenimmunität. Die dritte schließlich die Hoffnung auf einen guten Hirten, dessen drastische Maßnahmen der Viehhaltung ebenfalls nicht fremd sind: Das reicht von der Choreografie der wenigen erlaubten Freigänge, die eher an Bodenhaltung als an städtisches Leben erinnern, bis zur Isolierung von Gruppen und Individuen, die dem Risiko ausgesetzt wurden, um den Rest des Bestands nicht zu infizieren.
Dass das Virus das menschliche Selbstbewusstsein in die Krise bringt, braucht einen somit nicht zu wundern. Seit den Pestepidemien der Antike und des Mittelalters wirft jede Seuche dieselbe Frage auf: Was sind die Menschen denn anderes als Tiere, wenn sie doch plötzlich all ihre höheren Werte, Rituale und Ideale fahren lassen und sich wie eine Herde verhalten, der kaum noch Einhalt zu gebieten ist – es sei denn mit den Methoden eines gestrengen Hirten?
Den meisten europäischen Regierungen ist hoch anzurechnen, dass sie anfänglich weder der Panik nachgegeben haben noch zu extremem Hirtenverhalten neigten. In der Mehrheit setzten sie auf Eigenverantwortung und ein Minimum an Freiheit und Würde. Doch schleichend ermüden die Menschen. Die eigenen vier Wände mit Internetanschluss werden zu einer allzu offenkundigen Form der zu kleinen Existenz unserer globalen Vernetztheit.
Die Pandemie macht damit deutlich, dass nichts mehr stimmt an einer Gegenwart, die unerträglich breit und zugleich unerträglich eng wird. Diese Einsicht wirkt wie der Ruf des ägyptischen Steuermanns vor fast 2000 Jahren: Der große Pan ist tot. Gestorben vor Angst oder vor Langeweile. Was kommt nach ihm? Hoffen wir auf ein gelasseneres Verhältnis zur Zukunft.
Dieser Artikel ist am 10. April unter dem Titel „Das Leben im ewigen Idyll ist zu Ende“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm