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Schon vor dem Beginn des Studiums interessierte Paulina Kintzinger sich für Entwicklungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Darum zog es sie für den interdisziplinären Studiengang Soziologie, Politik und Wirtschaft an die Zeppelin Universität. Sie liebte die akademische Interdisziplinarität am Bodensee und auch ihre Praxisstationen reichen von großen Unternehmen über Berliner Politik bis nach Washington, immer auf der Suche nach großen Fragen und Leidenschaft für die Thematik. Nach der Hälfte ihres Studiums legte sie ihren Fokus dann bewusst auf Entwicklungsländer und deren Ökonomie – Paulina Kintzinger hofft, dies im Master in Großbritannien vertiefen zu können.
Die Coronavirus-Pandemie war deutlich spürbar bei dieser Preisverleihung: Eine virtuelle Pressekonferenz einige Tage zuvor, deutlich weniger Gäste in der Frankfurter Paulskirche, kein Preisträger vor Ort, selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der darum gebeten hatte, die Laudatio auf den renommierten Wissenschaftler zu halten, konnte aufgrund einer Infektion in seinem Umfeld nicht anreisen.
In seiner Rede diagnostizierte Amartya Sen eine weitere besorgniserregende Verbreitung in der Welt: die Pandemie des Autoritarismus. Gesellschaftliche und politische Ungleichheiten würden in einem erschreckenden Tempo auf der ganzen Welt zunehmen. Der Autoritarismus schränke das Leben der Menschen nachhaltiger ein als das kursierende Virus, durch ihn würden persönliche und politische Freiheitrechte verletzt und er gefährde den sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt. Das Sen darüber besonders beunruhigt ist, ergibt Sinn. Stellen doch diese Themen sein Lebenswerk dar. Seit den 1980er-Jahren bearbeitet er Themen wie die multidimensionale Armut sowie die Ermöglichung und Gewährleistung von Chancen für alle Menschen und besonders auch von Frauen. Dabei war seine bisherige Arbeit von außergewöhnlicher Interkulturalität und Interdisziplinarität geprägt, die weit über den Elfenbeinturm der Wissenschaft herausragte. Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt er bereits 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Doch mit welcher Berechtigung ging der Friedenspreis in diesem Jahr an Amartya Sen?
Mit seinem gemeinsam mit der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelten Befähigungsansatz widmete er sich schon wie viele Philosophen den Fragen nach dem guten Leben und einer gerechten Gesellschaft. Damit gesellte er sich zu Aristoteles, Jeremy Bentham, John Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Emanuel Kant, an denen er sich abarbeitete und darüber schließlich zu seinem eigenen Ansatz kam. Der Befähigungsansatz beschäftigt sich wie kein anderer Ansatz zuvor mit der Ermöglichung und Gewährung individueller Chancen.
Ausgehend von einem intrinsischen Wert von Freiheit, erstellte er das Konzept von Verwirklichungschancen (Capabilities) und realen Fähigkeiten (Functionings), deren Differenz zur Messbarkeit individueller Wohlfahrt dienen kann. So gibt es einen großen Unterschied zwischen einem hungernden Menschen in einem armen Land und einem fastenden Menschen in einem reichen Land. Basierend auf den Erkenntnissen des Befähigungsansatzes wurde der Human Development Report der Vereinten Nationen 1990 von Amartya Sen und dem pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq ins Leben gerufen. Das liegt nun allerdings auch schon 30 Jahre zurück.
Doch gegenwärtig und bereits in den vergangenen Jahren gewinnt die Messung persönlicher Freiheiten immer wieder an Bedeutung, weil sie seit Langem erstmals in großem Stil und in vielen Ländern der Welt wieder eingeschränkt werden. Damit sind nicht unbedingt die Basisindikatoren gemeint, sondern erweiterte instrumentelle Freiheiten. An dieser Stelle spielen die politischen Freiheiten und Rechte eine gewichtige Rolle, da sie den Menschen Mitspracherecht und die Ermöglichung zur Partizipation und Gestaltung der eigenen Umwelt geben. Diese waren bereits in dem von Sen in den 1980er-Jahren entwickelten Ansatz von großer Bedeutung. Und schon damals hatte er auch Frauen in seine Überlegungen mit einbezogen und war damit einer der ersten Vertreter feministischer Makroökonomie.
Und die Einschränkungen dieser Freiheiten, die an manchen Orten bereits als selbstverständlich deklariert wurden, sind zunehmend in Gefahr. Etwa in Polen, in den USA, in Ungarn, auf den Philippinen oder in Sens Heimatland Indien, wobei sich die Liste noch lange fortsetzen ließe. In unserer heutigen Zeit bietet Amartya Sens Lebenswerk viel Lektüre und ein Messinstrument für diese Freiheiten. Seine Ansätze könnten aktueller nicht sein. Und deshalb verdient er im Jahr 2020 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Titelbild:
| Rowan Heuvel / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Tobias Bohm / Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Pressefoto)
Beitrag (redaktionell unverändert): Paulina Kintzinger
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm