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Regulierung

Kampf um den Bürokratie-Berg

von Prof. Dr. Christian Adam | Zeppelin Universität
15.12.2021
Um der zunehmenden Belastung gerecht zu werden, müssen wir nicht nur am angehäuften Regelberg ansetzen, sondern wir müssen ebenfalls die demokratische Infrastruktur stärken, die diesen trägt.

Prof. Dr. Christian Adam
Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft - Schwerpunkt Europäische Institutionen
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Christian Adam Christian Adam studierte im Bachelor Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und im Master Internationale Beziehungen und Governance an der Universität St. Gallen. Nach seiner Studienzeit in der Schweiz kehrte er zurück an die Universität Konstanz, wo er seine Promotion im Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft mit summa cum laude abschloss. Zeitweise war er in den vergangenen Jahren dort als Ergänzungsprofessor tätig, hauptsächlich arbeitete er aber als Akademischer Rat am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Die Parteien der Ampel-Koalition wollen „Mehr Fortschritt wagen“ und bekennen sich unter anderem in ihrem gleichnamigen Koalitionsvertrag zu einer Reihe von Maßnahmen, die durch Bürokratieabbau die Wirtschaft, Bürger und Verwaltungen entlasten sollen. Tatsächlich ist das Ziel des Abbaus „unnötiger bürokratischer Hemmnisse“ seit geraumer Zeit eine fest etablierte politische Formel, auf die sich alle politischen Parteien – zumindest in dieser Abstraktheit – einigen können.


Doch trotz aller Bemühungen um Bürokratieabbau beobachten wir in fast allen Politik- und Lebensbereichen eine kontinuierliche Zunahme gesetzlicher Regelungen und Maßnahmen. Egal ob wir die Entwicklung der Wörter, Paragrafen oder Seiten an Gesetzestexten oder aber – deutlich aufwändiger und umfassender – die Anzahl der verwendeten Policy-Instrumente und der damit adressierten Policy-Elemente als Maß heranziehen, der Befund ist eindeutig: Etablierte Demokratien befördern die Entstehung immer umfassenderer und komplexerer Policy-Mixe in allen Bereichen staatlicher Betätigung.

Die Gründe für dieses Phänomen, das im Folgenden als Policy-Akkumulation beschrieben wird, sind vielfältig. Am intuitivsten ist dieser Prozess wohl im Bereich der Umweltpolitik nachzuvollziehen. Während es in den 1960er-Jahren noch kaum umweltpolitische Maßnahmen gab, gibt es heute sehr viele. Policy-Akkumulation ist hier Ausdruck der Emergenz dieses Politikfeldes, Umweltproblemen und einer verstärkten Nachfrage aus der Bevölkerung.


Im Bereich der Sozialpolitik sind es gänzlich andere Gründe, die zu Policy-Akkumulation führen. Zwar wurden auch hier in vielen Ländern in den vergangenen 30 Jahren neue sozialpolitische Leistungen eingeführt (etwa das Elterngeld (Plus)) – hauptsächlich jedoch ist Policy-Akkumulation hier eine politische Reaktion auf knappe Kassen. So wurden im Zuge umfassender Bedürftigkeitsprüfungen komplexe Zugangsregeln geschaffen und zeitgleich vermehrt auf Instrumente der regulativen Sozialpolitik, wie Mindestlohn, Mietpreisbremse oder Mietendeckel, gesetzt. Diese erlauben es weiterhin Bürgern, sozialpolitische Angebote zu machen, ohne dafür direkt die staatlichen Haushalte zu belasten.


Aber auch im Bereich der sogenannten Moralpolitik – bei der es um die Regulierung von Bereichen geht, bei denen Grundwerte sowie ethisch-religiöse Überzeugungen eine wichtigere Rolle spielen als Interessen – verzeichnen wir Policy-Akkumulation in vielen modernen Demokratien. Dies ist vor allem auf Liberalisierungsprozesse zurückzuführen. Sobald Verbote von Prostitution oder Glücksspiel aufgehoben werden, entsteht für diese neuen Gewerbe eben auch ein wachsendes Netz an gewerbespezifischer Regulierung. Ähnlich wird auch die Liberalisierung von Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch eben nicht einfach über die Streichung von Verboten vollzogen. Vielmehr werden diese Verbote durch Regelkataloge ersetzt, die bestimmen, was von wem unter welchen Bedingungen getan werden darf, wer dies in welcher Form überwacht und wer Fehlverhalten hier in welcher Form sanktionieren kann.

Wie einige dieser Beispiele bereits deutlich machen, ist dieser Prozess somit keinesfalls nur negativ zu bewerten. Ganz im Gegenteil. In vielen Bereichen ist Policy-Akkumulation eine unmittelbare Manifestation von gesellschaftlichem Fortschritt und dem Streben nach Verbesserung. Wir profitieren von besserer Wasserqualität, besserer Gesundheit, Verbraucherschutz und dem Ausbau individueller Rechte. Gleichzeitig befördert kontinuierliche Policy-Akkumulation aber auch drei problematische Entwicklungen, die aufgrund ihrer schleichenden Verschlechterung häufig aus dem Blick geraten.

Erstens führt Policy-Akkumulation zu einer kontinuierlichen Erhöhung der Arbeitsbelastung derjenigen, die diese Maßnahmen täglich – etwa in Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen oder auch Kommunalbehörden – anwenden und umsetzen müssen. Menschen in diesen Berufen erleben dies als zunehmende Aufgabenverdichtung, die es immer schwerer macht, allen Aufgaben gerecht zu werden, ohne zu selektieren, abzukürzen und wegzulassen. Während es Implementationsprobleme immer schon gegeben hat, drohen sich diese im Zuge einer schleichenden Policy-Akkumulation ohne angemessene Anpassung der Implementationskapazitäten strukturell auszuweiten.

Zweitens wirkt sich Policy-Akkumulation auf die öffentliche politische Debatte aus. Je komplexer Regelsysteme sind, desto voraussetzungsvoller wird es, über selbst kleinere Reformen substanziell zu diskutieren. Denn dazu gehört unausweichlich eine Diskussion darüber, wie sich diese kleine Neuerung in den bestehenden und eben komplexen Regel-Mix einfügen sollte. Während man diesen steigenden Anforderungen an Diskurs im Rahmen von Expertenforen recht lange gerecht werden kann, ist dies im Rahmen von öffentlichem Diskurs, der kaum Vorwissen annehmen kann und starke Verkürzung erfordert, viel weniger möglich. Schleichende Policy-Akkumulation befördert somit die zunehmende Entkopplung zwischen Debatten im Expertenkreis und Debatten in der breiten Öffentlichkeit.

Drittens erschweren es die komplexen Maßnahmenbündel, die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen innerhalb solcher Bündel zu überprüfen. Schließlich wirken diese im Verbund mit den anderen Maßnahmen innerhalb des Mix. Die Wirkung einer Maßnahme hängt meist entscheidend von den anderen existierenden Maßnahmen ab. Die Auswirkung einer Maskenpflicht auf das Infektionsgeschehen hängt eben auch entscheidend davon ab, ob gleichzeitig Schulen, Kultur und Einzelhandel geschlossen sind oder nicht. Hängt die erwartbare Wirksamkeit einer Maßnahme von vielen Parametern ab, so ist dieser konditionale Effekt nicht nur schwierig zu identifizieren; er erschwert es ebenfalls, leicht vermittelbare Schlussfolgerungen abzuleiten und an Entscheidungsträger zu kommunizieren.


Insgesamt wird es im Zuge von Regelwachstum somit immer aufwändiger, den angehäuften Maßnahmen- und Regel-Mix adäquat zu implementieren, zu diskutieren, zu evaluieren und evidenzbasiert zu verändern.

Bürokratieabbau, die Vermessung von Erfüllungskosten oder sogenannte „one-in one-out“-Regeln sind in vielen Bereichen punktuell sicherlich sinnvoll. Die meisten Menschen werden Beispiele für abstruse, widersprüchliche und kontraproduktive Regeln aus ihrem Alltag kennen. Ob es jedoch generell wünschenswert wäre, der oben skizzierten Akkumulationsdynamik mit massivem Regelabbau zu begegnen, hängt entscheidend von folgender Einschätzung ab: Wie groß ist der Anteil an Vorschriften an der Gesamtheit aller in den vergangenen 40 Jahren geschaffenen politischen Maßnahmen, die Unternehmen und Gesellschaft belasten, ohne dabei einen relevanten Nutzen zu stiften? Sind dies eher 80 Prozent aller Regeln oder eher 5 Prozent?

Bürokratie als Dauergast: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat sich die Bürokratiebelastung in einer ausgewählten Branche genauer angeschaut: dem Gastgewerbe. Dazu wurden bei 14 Hotels und Gasthöfen die Arbeitsstunden erfasst und ausgewertet, wie viel davon für das Abarbeiten staatlicher Vorgaben entfielen, zum Beispiel für Kassenrichtlinie, Datenschutzgrundverordnung oder das Arbeitszeitgesetz. Insgesamt fallen im Gastgewerbe 125 gesetzliche Verpflichtungen an, wovon 43 Prozent branchenspezifisch sind. Für ein mittelständisches Unternehmen im Gastgewerbe sind das 2,5 Prozent des Jahresumsatzes, die aufgewendet werden müssen, um alle Vorgaben der staatlichen Bürokratie zu erfüllen. Insgesamt beträgt die Bürokratiebelastung durchschnittlich zwischen 12.000 bis 60.000 Euro pro Jahr. Ein Durchschnittsunternehmer macht 14 Überstunden pro Woche, um den staatlichen Pflichten nachzukommen.
Bürokratie als Dauergast: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat sich die Bürokratiebelastung in einer ausgewählten Branche genauer angeschaut: dem Gastgewerbe. Dazu wurden bei 14 Hotels und Gasthöfen die Arbeitsstunden erfasst und ausgewertet, wie viel davon für das Abarbeiten staatlicher Vorgaben entfielen, zum Beispiel für Kassenrichtlinie, Datenschutzgrundverordnung oder das Arbeitszeitgesetz. Insgesamt fallen im Gastgewerbe 125 gesetzliche Verpflichtungen an, wovon 43 Prozent branchenspezifisch sind. Für ein mittelständisches Unternehmen im Gastgewerbe sind das 2,5 Prozent des Jahresumsatzes, die aufgewendet werden müssen, um alle Vorgaben der staatlichen Bürokratie zu erfüllen. Insgesamt beträgt die Bürokratiebelastung durchschnittlich zwischen 12.000 bis 60.000 Euro pro Jahr. Ein Durchschnittsunternehmer macht 14 Überstunden pro Woche, um den staatlichen Pflichten nachzukommen.

Während man sich häufig auf abstrakter Ebene sehr schnell auf das Ziel Bürokratieabbau verständigen kann, ist es deutlich schwieriger, eine große Zahl an Regeln zu identifizieren, die für alle Beteiligten offensichtlich unnötig sind. Für einen effektiven Umgang mit kontinuierlicher Policy-Akkumulation ist es daher zentral anzuerkennen, dass die damit verbundene gesellschaftliche Herausforderung hauptsächlich darin besteht, dass eine große Zahl einzelner Regeln für sich genommen zwar legitime Ziele verfolgt, in der Summe aber – als stetig wachsendes Regelkollektiv – zur gesellschaftlichen Belastung wird.

Um dieser zunehmenden Belastung gerecht zu werden, müssen wir deshalb nicht nur am angehäuften Regelberg ansetzen, sondern wir müssen ebenfalls die demokratische Infrastruktur stärken, die diesen trägt. Eine stärkere vertikale Vernetzung zwischen Entscheidungsträgern und -umsetzern kann dabei die bedarfsgerechte Investition in Verwaltungskapazität verbessern. Zusätzlich wird wohl Medien eine zentrale Funktion zukommen: Ihnen muss es gelingen, auch jenseits von Personalpolitik und Wahlkämpfen regelmäßig komplexe Gesetzgebungsvorhaben kritisch zu begleiten und auch auf den ersten Blick technisch anmutenden Implementationsproblemen Aufmerksamkeit zu schenken. Dies gelingt wohl gerade auch dann, wenn dies von Lesern aktiv eingefordert und honoriert wird. Schließlich stehen auch Behörden vor der Herausforderung, Bürgern dabei zu helfen, durch das immer komplexere Netz staatlicher Leistungen und Anforderungen erfolgreich und diskriminierungsfrei navigieren zu können.

Titelbild: 

| Yan Ots / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| the blowup / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

| Viktor Talashuk / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Christian Adam

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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