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Die in der rumänischen Hauptstadt Bukarest geborene und aufgewachsene Florentina Paraschiv studierte International Economic Transactions (Diplom) und Banking and Capital Markets (Master) an der Babes-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca (Klausenburg). Sie schloss am Institut für Operations Research und Computational Finance an der Universität St. Gallen (HSG) ihre Promotion ab. Anschließend übernahm sie dort eine Assistenzprofessur, die mit der erfolgreichen Habilitation endete. Aufenthalte als Gastforscherin führten Florentina Paraschiv unter anderem an die Universität Duisburg-Essen, an die Universität Wien, an die University of Oslo, an die London Business School und an das an der University of Cambridge angesiedelte Isaac Newton Institute. Ihre Forschungsergebnisse in Energy Finance wurden mehrfach ausgezeichnet. Neben Green Finance und Fintech wird sie an der ZU zu den Themenfeldern Banken- und Finanzregulation, Ökonometrie und Maschinelles Lernen forschen und lehren.
Christoph Halser ist Doktorand an der Business School der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegen. Sein Forschungsinteresse ist die Preisentwicklung fossiler Energiemärkte sowie die Auswirkungen der Energiewende auf den Gasmarkt.
Die historisch gewachsene Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas findet ihren Ursprung in den 1970er Jahren, als die westdeutsche Bundesrepublik der damaligen Sowjetunion Stahlrohre im Austausch für Gaslieferungen bereitstellte. Nachdem in den Folgejahren Gas nicht nur in der Wärmeversorgung, sondern auch in vielen Industriezweigen Einzug gehalten hatte, erreichte laut den Energiedaten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Erdgas im Jahr 2021 mit 26,4 Prozent den zweitgrößten Anteil im deutschen Primärenergieverbrauch nach Öl mit 34,3 Prozent und gefolgt vom Anteil erneuerbarer Energien mit 10,4 Prozent.
Mit 37,2 Prozent fand im Jahr 2021 die häufigste Anwendung von Gas in der Industrie statt, während sich der Anteil der Haushalte auf 31,2 Prozent summierte, wo Erdgas insbesondere zum Heizen und zur Warmwasseraufbereitung genutzt wird. Neben der Verwundbarkeit der Haushalte durch eine Unterversorgung ist eine ununterbrochene Gasversorgung gerade für die deutsche Industrie von Relevanz, wo Erdgas für Prozesswärme oder in der Grundstoffchemie benötigt wird. Die Loslösung von russischem Erdgas stellt dabei eine große Herausforderung dar, zeigt der „Energy Security Progress Report“ des BMWK: Denn von den in 2021 importierten 83,17 Milliarden Kubikmetern (bcm) Gas stammten 46 bcm aus Russland (Abbildung 2).
Auch wenn Russland und Gazprom oft ihre Verlässlichkeit als Gaslieferanten herausgestellt haben, erfolgten nach Ausbruch des Ukrainekrieges Lieferstopps an mehrere europäische Länder aufgrund deren Weigerung, Gaslieferungen in Rubel zu bezahlen (gas-for-rubles) anstatt wie vertraglich festgelegt in Dollar oder Euro. Dies veranlasste Russland dazu, bereits bestehende Lieferverpflichtungen – etwa mit Polen, Bulgarien, Finnland, Dänemark oder den Niederlanden – auszusetzen. Als nächste Eskalationsstufe folgte daraufhin die Verkündung der kompletten Einstellung des Gastransits über die Yamal Pipeline durch Polen am 12. Mai 2022 und die Drosselung des Gastransits durch die Nord Stream I Pipeline seitens Gazprom auf 20 Prozent der Kapazität (33 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag) seit dem 27. Juli 2022. Als Grund für die Drosselung der Gaslieferungen wurde dabei die Unmöglichkeit der Ruckführung der von Siemens Energy gewarteten Verdichtungsturbine angeführt. Während von offizieller russischer Seite technische Gründe für die Drosselung genannt wurden, bezeichnete die Bundesregierung die Drosselung als willkürlich und politisch gewollt.
Gleich nach Ausbruch des Ukrainekrieges gingen unterschiedliche Forschungsgruppen der Aufgabe nach, den möglichen wirtschaftlichen Schaden eines kompletten Gaslieferstopps zu berechnen. Die dabei viel beachtete Studie von Rüdiger Bachmann und seinen Kolleginnen und Kollegen prognostiziert – in einem dynamischen Modell mit Substitutionsmöglichkeiten – einen wahrscheinlichen Wirtschaftseinbruch von nur 0,3 Prozent, im pessimistischen Fall jedoch 3 Prozent. Andere – wie etwa die Heinz Böckler Stiftung – rechnen dagegen bei einem unvorbereiteten Embargo mit einem Wirtschaftseinbruch von bis zu 8 Prozent.
Vor dem Hintergrund der großen Unsicherheit bezüglich der tatsächlichen ökonomischen Konsequenzen einer Unterversorgung mit Gas hat eine Vielzahl von Wirtschaftsforschungsinstituten das Ausmaß möglicher Einsparpotenziale für den kommenden Winter berechnet. Diese umfassen alle Gasverbrauchssektoren, wobei den Studien unterschiedliche Annahmen bezüglich technischer und ökonomischer Machbarkeit zugrunde liegen. Weiterhin stützen sich veröffentlichte Prognosen – soweit alternative Importkapazitäten aufgezeigt werden – oft auf die rein technisch mögliche gesamteuropäische LNG Importkapazität. Unsere Arbeit „Pathways to Overcoming Natural Gas Dependency on Russia—The German Case“ vereinheitlicht daher angenommene Einsparpotenziale für den Verbrauch und setzt diese in Zusammenhang mit dem tatsächlichen Potenzial kurzfristiger Importsubstitution in Deutschland, was zum größten Teil aus dem Import von LNG über flexibel einsetzbare Schiffe erreicht werden kann.
Abbildung 3 veranschaulicht die verbleibende Gaslücke im Falle eines Importstopps aus Russland. Das größte Einsparpotenzial lässt sich dabei nach der International Energy Agency (IEA) und dem Thinktank Bruegel im Strom- und Wärmesektor verorten. Obwohl die Erhöhung der Kohleverstromung den Klimazielen diametral entgegensteht, lässt sich dadurch den Berechnungen der IEA nach für Deutschland ein jährliches Einsparpotenzial von 6,4 bcm ableiten. Zusammen mit der kurzfristigen Installation von erneuerbaren Energien (1,4 bcm) und einer Erhöhung von Bioenergie und Atomstrom (3 bcm) beläuft sich demnach die mögliche Gaseinsparung im Strom- und Wärmesektor auf bis zu 10,8 bcm, was in etwa 11,6 Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs in Deutschland im Jahr 2021 entspricht.
Auch wenn mit 37,2 Prozent die Industrie für den größten Gasverbrauchsanteil verantwortlich ist, zeigen die Kalkulationen in fast allen begutachteten Studien (Abbildung 3) hier nur das zweitgrößte Einsparpotenzial auf. Grund hierfür ist einerseits, dass 4 Prozent des gesamten Gasverbrauchs (11 Prozent des industriellen Gasverbrauchs) als direkter Input stofflich verwendet wird und kaum substituierbar ist. Wir beschreiben dabei eine größere Diskrepanz über das angenommene Einsparpotenzial im Industriesektor in veröffentlichten Studien, was auf unterschiedliche Annahmen bezüglich der Substituierbarkeit von Erdgas zurückzuführen ist.
Während etwa die Denkfabrik Agora Energiewende in ihren beiden Szenarien von 4,5 bcm und maximal 9,2 bcm ausgeht, beschränkt sich das Einsparpotential im Industriesektor dem Fraunhofer Instituts für Energie- und Klimaforschung IEK-3: Technoökonomische Systemanalyse zufolge auf nur 2,3 bcm. Grund hierfür sind demnach die hohe Spezifizität der Produktionsprozesse, weshalb nur in Ausnahmen eine Substitution durch andere Energieträger möglich ist. Während für den Industriesektor also große Unsicherheit über die Substituierbarkeit von Erdgas besteht, ist das Einsparpotenzial der Haushalte unkomplizierter: Dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zufolge lassen sich hier pro Grad Temperaturreduktion 5 bis 6 Prozent des Gasverbrauchs der Haushalte einsparen, wodurch sich das Potenzial für Einsparungen in Haushalten auf 4,3 bcm summiert.
Auch wenn unsere Studie erhebliches Einsparpotenzial für den Gasverbrauch aufzeigt, so bescheinigt sie neben der Unsicherheit über das tatsächliche Einsparpotenzial für die kommenden zwölf Monate auch eine verbleibende Gaslücke zwischen 8,9 bcm und 22,2 bcm, wobei letzterer Wert in etwa der Hälfte der aus Russland gelieferten Gasmenge von 46 bcm im Jahr 2021 entspricht. In Anbetracht der Verwundbarkeit der Industrie durch eine Drosselung der Gasversorgung nach Ausrufen der Notfallstufe durch die Bundesnetzagentur muss eine Unterversorgung und ein vorzeitiges Entleeren der Gasspeicher verhindert werden. Unsere Studie zeigt dahingehend erforderliche Maßnahmen auf, um die Gaslücke weitestmöglich zu schließen.
Neben den aufgezeigten Möglichkeiten zur Verbrauchssenkung plädieren wir zur Vermeidung eines Versorgungsengpasses aufgrund unserer Ergebnisse für die temporäre Nutzung von Kohlekraftwerken, aber auch für eine offene Diskussion um eine zeitlich limitierte Aussetzung des Atomausstieges. Gleichzeitig kann unter Einhaltung der gesetzten Klimaziele die langfristige Unabhängigkeit von russischem Erdgas nur mit einem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien erreicht werden. Vor dem Hintergrund des aktuellen Konfliktes sind bei der Ersatzbeschaffung von Erdgas zudem europäische Koordination sowie eine Informationskampagne über kurzfristig implementierbare Verbrauchsanpassungen der Haushalte erforderlich.
Dieser Artikel ist am 6. Juli unter dem Titel „Pathways to Overcoming Natural Gas Dependency on Russia — The German Case“ im Journal Energies 2022 erschienen.
Titelbild:
| Ayesha Firdaus / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Abbildungen im Text:
| Prof. Dr. Florentina Paraschiv und Christoph Halser
Beitrag (redaktionell unverändert):
| Prof. Dr. Florentina Paraschiv und Christoph Halser
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm