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Eva Illouz wurde 1961 geboren und wuchs in Marokko und Frankreich auf. Sie studierte in Paris und in Pennsylvania. Professorin für Soziologie ist sie seit 2006 an der Hebräischen Universität Jerusalem und seit 2015 an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, einer französischen Elitehochschule für Sozialwissenschaften. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, wie den Anneliese Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung oder den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ihre Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Zeitungen wie „Die Zeit“, „Le Monde“ und „Haaretz“. Im Fallsemester 2022 hat Eva Illouz an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen die Seniorprofessur für Theory of Emotions and Modernity übernommen.
Westliche Gesellschaften haben die Konzepte der individuellen Freiheit und der Chancengleichheit auf der Grundlage von Vernunft und rationalen Abwägungen entwickelt. Emotionen und Gefühle hingegen werden oft als Schwächung des rationalen Fundaments einer liberalen Gesellschaft betrachtet. Gleichzeitig scheint die Welt der Politik ganz klar extrem emotional geprägt zu sein. Die meisten Menschen wählen eine Partei nicht aufgrund rationaler Bewertungen, sondern aufgrund von Sympathien – George Bush zum Beispiel hat es schön formuliert als Überlegung, ob ich mit der Person ein Bier trinken gehen würde; das ist im Prinzip die Überlegung, die einige Menschen anstellen, um zu entscheiden, wen sie wählen. Welche Rolle spielen nach Ihrer Auffassung Emotionen in der Politik?
Prof. Dr. Eva Illouz: Vorausschicken möchte ich, dass ich das rationale Modell des öffentlichen Raums für ein wichtiges und richtiges normatives Ideal halte. Also die Vorstellung, dass Wissen in unserer Meinungsbildung eine Rolle spielt, was wiederum eine gewisse Fähigkeit zur Unterscheidung von richtigen und falschen Informationen voraussetzt.
Wenn Sie sich die Aufklärung ansehen, in der der öffentliche Raum ja gewissermaßen begründet wurde, dann sehen Sie da allerdings auch eine Menge Emotionen. Diese gelehrten Männer beleidigen einander, sie sprechen sehr aus der Entrüstung heraus, sehr auf ihre eigenen Ziele bedacht, und der persönliche Kontakt spielt definitiv auch eine zunehmende Rolle im Aufkommen des demokratischen öffentlichen Raums. Die Fähigkeit, sich auf emotionaler Basis mit anderen zu identifizieren, war offenbar von Anfang an wichtig.
Grundsätzlich denke ich, dass Standpunkte in der Politik nicht fest verankert sein können, wenn sie keinen emotionalen Anker haben. Es ist kaum möglich, gleichzeitig eine Meinung und eine Überzeugung zu haben, kognitiv und emotional. Wenn ich also der Auffassung bin, dass alle Männer und Frauen von Geburt an gleich sind, ist das mehr als eine Meinung, es ist eine Überzeugung, und es bedeutet, dass ich mich dafür einsetzen würde, dieses Ideal zu verteidigen. Letztlich ist es ein sehr alter aristotelischer Gedanke, dass es mehrere Arten der Rede gibt, es gibt den Logos, der ist rational, und dann gibt es das Pathos, das auf Emotionen beruht.
Vermutlich müssen wir uns eher fragen, wann und warum Emotionen krankhaft werden. Wir müssen eine Linie ziehen zwischen dem alltäglichen Strom der Emotionen in einem lebendigen öffentlichen Raum, in dem Menschen von ihren Standpunkten überzeugt sind, und einem öffentlichen Raum, in dem Emotionen krankhaft geworden sind. Aus meiner Sicht bietet unser gegenwärtiger öffentlicher Raum eine Bühne für viele Experten in der Manipulation von Emotionen. Visuelle Medien, Social Media, Informationshäppchen mit emotionaler Verankerung – all dies bietet Politikerinnen und Politikern eine enorme Vielfalt an Optionen, um Wähler zu mobilisieren und zu polarisieren. Anstelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung werden vielfach Angst oder wahlweise Nostalgie heraufbeschworen, was einer Polarisierung Vorschub leistet. Sie tritt immer dann auf, wenn Wähler eine starke emotionale Identifikation entweder mit Parteien oder mit Politikern oder mit Themen haben. Wenn diese Identifikation stark emotional ist, wird sie nicht-verhandelbar.
Vor fünfzig Jahren machte es wenig aus, ob man Republikaner oder Demokrat war – das machte nur einen kleinen Teil der eigenen Identität aus. Man war viele andere Dinge, man war Christ oder ein gebildeter Mensch oder Weißer. Wenn wir heute über Emotionalisierung in der Politik sprechen, dann meinen wir ein gigantisches Phänomen in dem Sinne, dass die politische Identität heutzutage einen Großteil unserer gesamten Identität ausmacht. Deshalb geht es heute in der Politik so emotional zu.
Ihre Ausführungen machen deutlich, dass es offenbar eine strukturelle oder qualitative Verlagerung in dieser Entwicklung gegeben hat. Gibt es aus Ihrer Sicht einen qualitativen Unterschied zwischen der Art, in der Emotionen früher eingesetzt wurden, und der Art, wie es heute getan wird, oder ist das nur alter Wein in neuen Flaschen?
Illouz: Ich glaube, es wäre völlig falsch zu sagen, dass es früher rationaler zuging. Nehmen Sie de Gaulle, der war voller Pathos. Ein grundlegender Unterschied zu früheren Jahren liegt aus meiner Sicht in der Rolle der sozialen Medien, die eine Vervielfältigung und Objektivierung von Emotionen fördern. Stellen Sie sich vor, ein Spitzenpolitiker würde sagen „Wussten Sie schon (das ist ein aktuelles Beispiel aus der französischen Politik), dass ein Einwanderer den französischen Staat mehr Geld kostet als ein französisches Kind aufzuziehen?“ Wenn ich das früher gehört hätte, hätte ich darüber vielleicht mit meiner Nachbarin gesprochen, vielleicht bei einem gemeinsamen Abendessen und danach wäre es vermutlich mehr oder weniger im Sande verlaufen. Aber wenn jetzt jemand so etwas sagt, wächst dem Gesagten durch soziale Medien Unmittelbarkeit und eine objektive Existenz zu, und dann kommen noch Falschnachrichten hinzu, die diese Behauptung stützen, und Sie können auch sehr schnell Kontakt mit einer Gruppe Gleichgesinnter aufnehmen. Anders ausgedrückt will ich sagen, dass meine ursprüngliche emotionale Entrüstung jetzt objektiviert und enorm verstärkt würde und um eine Gemeinschaft Gleichgesinnter herum organisiert wäre.
Ich stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, dass es nicht nur die Populisten sind, die in der Vergangenheit Emotionen aufgestachelt haben. Auch Obama hat beispielsweise einen Fokus darauf gelegt, in seiner Wählerschaft Emotionen zu wecken. Das bringt mich zu einer weiteren, eher normativen Frage. Sollten Politiker Ihrer Meinung nach mehr Emotionen zeigen? Gibt es eine Art Wettbewerb um die Emotionen in der Politik, auf den sich Politiker vorbereiten sollten?
Illouz: Meinen Sie, ob sie weniger Emotionen zeigen sollten?
Sie haben diese hochprofessionalisierte Gruppe von Marketing- und Kommunikationsexperten erwähnt, die zu der Behauptung geführt hat, dass „Mainstream-Politiker“ inzwischen fast austauschbar geworden sind, weil alles, was sie sagen, aus derselben Mainstream-Kommunikations- oder Marketingschule stammt. Diese Politiker sagen also nicht, was sie eigentlich meinen oder fühlen. Sie sagen, was ihnen ihre Kommunikationsleute empfohlen haben. Sie sind zu einem gewissen Grad austauschbar geworden. Dagegen sagt man, dass Populisten gemeinhin sagen, was sie meinen, was natürlich nicht stimmt. Sie sprechen aber meist freier. Die Frage ist also eigentlich, wie wir mit Populismus umgehen können, wenn der Populismus so gut darin ist, die Emotionen der Wählerschaft aufzustacheln. Sollten Politiker dann auch mehr Emotionen zeigen?
Illouz: Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, es sollte einen linken Populismus geben, um dem rechten Populismus etwas entgegenzusetzen. Ich glaube, was Sie Emotionen nennen, würde ich nicht unbedingt Emotionen nennen. Wähler sehnen sich paradoxerweise oder nicht paradoxerweise nach Authentizität. Jemand, der in goldenen Palästen lebt, wie Trump, kommt authentisch rüber, deshalb wird ihm geglaubt und er kann Leute mitreißen. Ich würde also sagen, dass Authentizität nötig ist, aber ich nehme das Wort dabei nicht allzu ernst: Authentizität ist in meinen Augen kein Wert an sich. Auf mich wirkt sie oft kitschig und wie eine andere Art, über sich selbst zu lügen. Ich persönlich glaube nicht, dass Authentizität in der Vergangenheit so wichtig war. Ich glaube, man wollte jemanden, der die Nation verkörpert, jemanden, dem man vertrauen konnte. Heute scheint Authentizität zur Währung der Politik geworden zu sein, und oft wird sie mit Emotionalität verbunden. Aung San Suu Kyi beispielsweise ist extrem emotional in ihrer Ausdrucksweise und wird als authentisch angesehen, sie schlägt viel Kapital aus der Authentizität. Im Prinzip glaube ich also, dass es angesichts der Tatsache, dass große Teile unseres Umfelds emotionalen Ausdruck fordern, für nüchterne, nicht emotionale Politiker viel schwieriger ist – ich weiß nicht, wie Olaf Scholz ist, aber auf mich wirkt er nicht sehr expressiv. Oder Angela Merkel, sie war eine sehr erfolgreiche Politikerin. Würden Sie sie als emotional bezeichnen?
Die meisten Menschen würden das wahrscheinlich nicht.
Illouz: Ich glaube nicht. Sie hatte die meiste Zeit dieses irgendwie ausdruckslose Gesicht, und doch war sie sehr erfolgreich.
Und auch authentisch.
Illouz: Ja, genau, das ist ein sehr gutes Beispiel einer anderen Art von Authentizität. Sie hat nichts vorgespielt. Macron auf der anderen Seite wird als Bürokrat wahrgenommen. Er wird nicht als authentisch wahrgenommen, weil er als zu bürokratisch gilt. Sollten wir also mehr Emotion oder Emotionalität priorisieren? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass Emotionen der beste Weg sind, eine Verbindung zu den Bürgern herzustellen, und sie haben die Tendenz, die politische Sphäre in Richtung nicht-verhandelbarer Argumente zu führen. Sie macht auch Diskussionen oder Abwägungen mühsamer, langweiliger, weniger interessant, weniger unterhaltsam. Wenn überhaupt, sage ich also, dass Emotionen unausweichlich sind, aber ich würde wahrscheinlich, wenn ich könnte, versuchen, sie zu zügeln oder sie aus der politischen Sphäre herauszuhalten.
Das Gespräch führten die freie Journalistin und Texterin Kathrin Drinkuth und ZU-Professor Simon Koschut, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Sicherheitspolitik.
Titelbild: Corinna Kern
Redaktionelle Umsetzung: Michael Scheyer