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Dr. Thomas Pfister forscht am European Center for Sustainability Research (ECS) der Zeppelin Universität. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Nachhaltigkeit, die er aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet. Dabei analysiert er die Fragen nach Vertrauen, Legitimität und Demokratie, sowie das Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaft. Pfister promovierte 2007 in Belfast und arbeitet seit September 2011 an der Zeppelin Universität.
Innerhalb der EU hat sich in den letzten Jahren ein spezieller Diskurs zu den Elementen, Instrumenten und Zielen ‚moderner' Sozialpolitik durchgesetzt, der am besten durch die Leitideen der ‚Aktivierung' und des ‚aktivierenden Wohlfahrtsstaates' charakterisiert werden kann. Dieses Buch untersucht die Auswirkungen dieser transnationalen konzeptionellen Debatte auf gegenwärtige Formen von Bürgerschaft im Sinne von Rechten, Pflichten, Partizipationsmöglichkeiten und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen aber auch im Sinne neuer Ungleichheiten.
Das männliche Ernährermodell ist ein sozialwissenschaftliches Modell, schreiben die beiden Wissenschaftler Frank Oschmiansky und Jürgen Kühl in einem Dossier der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb). Es bezeichne die Konstellation in einer Familie, in welcher der Mann einer bezahlten beruflichen, mit entsprechenden Sozialleistungen ausgestatteten Tätigkeit nachgehe und als Hauptverdiener die Familie ernähre. Doch diese Konstellation ist weniger häufig als früher anzutreffen.
Ihr Buch trägt den Titel „The Activation of Citizenship in Europe“, aber es untersucht sozial- und beschäftigungspolitische Reformbemühungen in Europa. Welche Rolle spielt hier „Citizenship“?
Dr Thomas Pfister: Mit „Citizenship“ ist nicht der juristische Status der Staatsbürgerschaft, sondern die Gesamtheit der institutionalisierten Beziehungen zwischen Bürgern und politischem System bezeichnet. Citizenship umfasst die Rechte und Pflichten der Bürger, ihre Partizipationsmöglichkeiten und den Zugang zu materiellen und immateriellen gesellschaftlichen Ressourcen, zugleich aber auch ganz bestimmte Muster von Ungleichheit und Exklusion. Eine Citizenship-Analyse erlaubt also die Einbettung der Analyse institioneller Veränderungen in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext.
In Medien und Fachmagazinen wird eine Entwicklung vom „fürsorgenden“ zum „aktivierenden“ Wohlfahrtsstaat beschrieben – was hat es mit dieser Veränderung auf sich?
Pfister: Das Konzept des „aktivierenden“ Wohlfahrtsstaates hat sich seit den 90er Jahren zum neuen politischen Paradigma entwickelt. Ziel ist eine möglichst hohe Beschäftigungsquote, wobei der Staat keine Arbeitsplätze schaffen, sondern die Bürger durch „Investment“ in deren „Sozialkapital“, aber auch durch Zwangsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt „aktivieren“ soll. Besonderes Augenmerk gilt der Aktivierung „unterrepräsentierter“ Gruppen – wie Frauen, Alleinerziehende, Ältere, Schulabrecher, chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung.
Besonders konzentrieren Sie Sich in Ihrem Werk auf die Gleichstellungsdimension europäischer Sozialpolitik. Welche Schlüsse lassen sich hieraus für den Umbau der europäischen Sozialstaaten und vielleicht auch hinsichtlich anderer sozialer Ungleichheiten ziehen?
Pfister: Diese Dimension ist nicht nur quantitativ für die breitere gesellschaftliche Bewertung gegenwärtiger sozialstaatlicher Reformen von besonderer Bedeutung. Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern werden nach wie vor auch ganz entscheidend durch die unterschiedlichen Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsinstitutionen bestimmt. Die Aktivierungsagenda korrigiert zuerst einmal die immer noch starke Ausrichtung vieler Institutionen am traditionellen „male breadwinner model“, die Frage nach dem Wie ist aber noch offen. So wurden in vielen Staaten neue Kinderbetreuungsprogramme und Rechte für Eltern beschlossen. Bei anderen Aspekten, die sich eher auf die individuelle Arbeits- und Lebensqualität auswirken, wie etwa der massiven Entgeltungleichheit – Deutschland schneidet hier miserabel ab – wird fast gar nichts getan. Leider geht es meist eher um die Erreichung quantitativer Ziele als darum, die Arbeitswelt an veränderte Lebensmodelle anzupassen.
In ihrem Buch erläutern Sie auch Partizipationsmöglichkeiten: Wo lässt sich an dieser Stelle ansetzen, wenn die Europäische Union einen Großteil ihrer Vorhaben durchwinkt, ohne eine aktive Mitsprache der Bürger einzufordern?
Pfister: Das Dilemma der EU liegt darin, dass dieses neue Gebilde nicht einfach durch die Übertragung nationaler Muster demokratisch legitimiert werden kann. Gleichzeitig stehen der Politik und den Gesellschaften Europas aber nur diese Instrumente zur Verfügung bzw. sind nur diese als legitim anerkannt.
Mein Buch weist aber auf ein tieferliegendes Problem hin, dass auch auf nationaler Ebene meist ignoriert wird: Alle politischen Prozesse, insbesondere aber Reformprozesse, hängen zuerst einmal von einem breiteren Kontext aus Werten, (Problem-)Definitionen und Lösungstrategien ab. Diese werden im Rahmen einer konzeptionellen – im konkreten Falle transnationalen – politischen Debatte verhandelt, auf die die eigentlich Betroffenen, die Bürger, kaum Einfluss haben.
Bild: Flickr
Thomas Pfister, „The Activation of Citizenship in Europe”, Manchester University Press, 140 Seiten, ISBN-10: 0719083311, ISBN-13: 978-0719083310