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Professorin Dr. Lucia A. Reisch, Jahrgang 1964, studierte in Hohenheim und Los Angeles (USA). Zwischen 1988 und 2004 war sie Assistentin am Lehr- und Forschungsbereich Konsumtheorie und Verbraucherpolitik der Universität Hohenheim, wo sie 1994 promovierte. 2006 erhielt sie einen Ruf als Professorin für interkulturelles Konsumverhalten und europäische Verbraucherpolitik an die Copenhagen Business School. Darüber hinaus ist sie seit 2011 DIW Research Professor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sowie ständige Gastprofessorin für Konsumverhalten und Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
Für die aktuelle Studie befragten Professorin Lucia Reisch, ihr Kollege Professor Dr. Gerhard Raab, Professor für Marketing und Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Ludwigshafen, sowie Professor Dr. Peter Kenning von der ZU mit einem selbst entwickelten und mehrfach eingesetzten „Kaufsuchtindikator“ 1300 Personen zu ihren Kaufgewohnheiten. Reisch und Raab arbeiten bereits seit 1991 am Thema Kaufsucht. Die erste Studie bestand aus 26 explorativen Tiefeninterviews, die um psychologische Tests zu Persönlichkeitsmerkmalen ergänzt wurden. Auf dieser Grundlage wurde der „Kaufsuchtindikator“ entwickelt und mehrfach in repräsentativen Studien eingesetzt (1991; 2001; 2010; 2011), wobei die Fragen an neue gesellschaftliche Entwicklungen angepasst wurden, bspw. an das Internet-Shopping.
Seit 1991 untersucht die Forschergruppe um Lucia Reisch und Gerhard Raab das Kaufverhalten der Deutschen. Mehr als ein Viertel der Deutschen kaufen demnach nicht allein zur Bedarfsdeckung, sondern gleichen mit dem Kauf auch emotionale Probleme aus – bis hin zum Kaufzwang. Von 2010 auf 2012 stieg der Anteil Kaufsüchtiger von sieben auf nahezu 12 Prozent. Am stärksten stieg die Kaufsucht in Ostdeutschland: Sie nahm von sechs auf 19 Prozent zu. Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Geschlechtern: Frauen zeigen eine leicht stärkere Neigung zur Kaufsucht mit 12 Prozent, verglichen mit elf Prozent bei Männern.
Kaufsucht ist ein zunehmendes Phänomen. Ab wann geht denn ein Konsument nicht mehr nur gern shoppen, sondern gilt als kaufsüchtig?
Da wirken verschiedene Variablen und Aspekte zusammen: Konsumenten verspüren einen unwiderstehlichen Drang, zu kaufen. Sie werden zu „Wiederholungstätern“, die Interessen der Menschen werden immer stärker auf das Kaufen verengt. Auch ein Kontrollverlust in Kaufsituationen kann auftreten und die Dosis muss steigen, um befriedigen zu können. In einigen Fällen treten auch Entzugserscheinungen auf. Die Symptome sind im Übrigen bei allen Verhaltenssüchten die gleichen.
Ihre gemessene Kaufsuchtrate steigt seit Anfang der 90er Jahre. Einer der Faktoren ist, dass Zahlungen immer stärker bargeldlos virtuell abgewickelt werden. Erwarten Sie eine weitere Zunahme von Kaufsucht, wenn der Trend anhält?
Die Zahlungsmodalitäten sind ja schon weitgehend virtualisiert. Man bezahlt heute ja teilweise schon mit dem Handy. Insofern würde ich nicht davon ausgehen, dass die Kaufsucht aufgrund einer noch weiteren Virtualisierung zunehmen wird, das geht im Grunde ja gar nicht. Auf der anderen Seite können diese modernen Zahlungsformen heute auch zur Selbstkontrolle und Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Eigene Grenzen könnten in finanziellen Tageslimits bestehen. Im Moment geschieht das aber kaum.
Sie schreiben, Kaufen wird als Symbol für Selbstständigkeit und Kompetenz gesehen, was es schwer macht, das Suchtproblem zu identifizieren. Hat sich da in den vergangenen 20 Jahren etwas geändert oder handelt es sich nach wie vor um eine schwer thematisierbare Problematik?
Zunächst einmal ist Kaufen zentral in jeder Konsumgesellschaft und schon früh werden wir entsprechend sozialisiert, etwa durch Taschengeld. Was aber in den letzten 20 Jahren passierte, ist, dass die Bedeutung des „Shoppings“ als Freizeitbeschäftigung zugenommen hat. Wenn Sie heute Menschen nach ihren liebsten Freizeitvergnügen fragen, werden Sie das Shopping weit vorn finden. Bereits vor 20 Jahren hat man das in den USA beobachtet, in Europa war das lange nicht der Fall.
Und ist die Kaufsuchtproblematik Ihrer Meinung nach im gesellschaftlichen Diskurs angekommen?
In der Forschung ist Kaufsucht in Deutschland durchaus präsent, auch in der klinischen Arbeit. Aber auf den Listen der entsprechenden Fachgesellschaften nicht. Da passiert nichts. Und dabei gibt es ganz namhafte Psychiater und Psychiaterinnen, Martina de Zwaan von der Uni Hannover zum Beispiel, die sich seit langem mit der Problematik auseinandersetzen und Kaufsüchtige therapieren,
Wenn Sie auf dem Gebiet der Verbraucherpolitik forschen – was kann diese denn in Ihren Augen leisten, um dem Problem der Kaufsucht zu begegnen?
Man kann zum einen für Sensibilität und Informationen sorgen. Zum Beispiel in der Schuldnerberatung. Zum anderen können die Stimuli untersucht werden, die zu Impulsivität, zum Kontrollverlust, führen – die Thematik, für die wir Konsumforscher uns interessieren. Damit stehen wir gewissermaßen dem Absatzmarketing gegenüber und zielen auf wohlinformierte und -überlegte Kaufentscheidungen mit langfristig positiven Wirkungen. Einer dieser Stimuli ist der Zahlungsmodus. Andere sind die Gestaltung des Umfelds, wie mit Risiken und Nebenwirkungen umgegangen wird oder auch, welches die langfristigen Kosten eines Kaufs sind. Das sind alles Dinge, die Marketingleute natürlich nicht so gern thematisieren.
Gibt es Vergleiche zu verbraucherpolitischen Reaktionen in anderen Ländern – kann sich Deutschland vielleicht etwas abschauen?
Nein, weil die Kaufsuchtforschung in Deutschland die führende in Europa ist. Die Frage ist aber eigentlich eine andere. Eine Konsumgesellschaft will ja, dass möglichst viel und möglichst gedankenlos konsumiert wird. Probleme gibt es aber, wenn Konsum unkontrolliert stattfindet. Zum einen auf individueller Ebene, wenn Kaufsüchtige beispielsweise das Haushaltsgeld abzwacken, um ihre Sucht zu befriedigen und das Kind dadurch nicht an der Klassenfahrt teilnehmen kann. Zum anderen auf gesellschaftlicher Ebene mit der Nachhaltigkeitsthematik. Das sind Fragen, die gestellt werden müssen und die internationale Gültigkeit besitzen.
Bild: Bertram Rusch