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Prof. Dr. Dr. Manfred Moldaschl studierte Psychologie, Geschichte, Literatur und Soziologie in Tübingen, Berlin und München. Er neigt keiner akademischen Disziplin zu, sagt er selbst, sondern verfolgt vielmehr das Prinzip der eisernen Disziplinlosigkeit. Unter anderem arbeitete er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Institut für Humanwissenschaften in Arbeit und Ausbildung der TU-Berlin. Moldaschl hielt Lehraufträge und Gastprofessuren in Psychologie und Soziologie an Universitäten im In- und Ausland. Seit 2013 ist er Inhaber des Audi-Stiftungslehrstuhls für Sozioökonomie und unternehmerisches Handeln an der Zeppelin Universität.
Manfred Moldaschl spielt im Interview auf Benjamin Barbers 1984 erschienendes Werk "Strong Democracy" an. Die entsprechende Textstelle lautet wie folgt: "Die liberale Demokratie konnte in der Geschichte ungeheuere Erfolge verbuchen, aber sie hat auch zur Entstehung des Massenmenschen beigetragen: zur Entstehung von Individuen, die durch Ihre Privatsphäre und ihren Besitz definiert, aber unfähig zur Selbstbestimmung sind, deren Emanzipation Rechten und Freiheiten geschuldet ist, und die dennoch nicht als moralisch autonome Personen handeln können, die von Ehrgeiz und Gier getrieben sind, aber von jenen Kräften am Glück gehindert werden, die seine Verwirklichung ermöglichen sollten."
Für interessierte Leser empfiehlt Manfred Moldaschl einen Bericht der New York Times zum Weiterlesen, der sich mit der Schweizer Bürgerinitiative zum bedingungslosen Grundeinkommen beschäftigt. Der Artikel steht unter "Mehr" kostenfrei zur Verfügung.
Das bedingungslose Grundeinkommen soll jeden Bürger unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage und ohne Bedürftigkeitsprüfung eine gesetzlich festgelegte und für jeden gleiche finanzielle Zuwendung vom Staat garantieren. Gibt es überhaupt ein Land, in dem ein solches Modell bereits in die Praxis umgesetzt worden ist, und wie sind die Erfahrungen?
Prof. Dr. Dr. Manfred Moldaschl: Das bedingungslose Grundeinkommen soll viel mehr und kann zumindest theoretisch auch viel mehr. Es geht gar nicht allein und vorrangig um eine bloße Absicherung des Einzelnen, sondern um Perspektiven für eine nachhaltigere, mehr am Gemeinwesen und an sinnvoller Zusammen-Arbeit interessierte Gesellschaft, die das erreichte Produktivitätsniveau unserer technologischen Zivilisation für mehr einsetzen kann und will als für mehr Fernseher und Einkaufstüten. Ich möchte hier den amerikanischen Politologen Benjamin Barber zitieren, der zwar 1984 nicht für ein Grundeinkommen plädierte, aber für die Idee einer ‚starken’, republikanischen Demokratie, für die das Grundeinkommen wie gemacht scheint, und die er einer ‚schwachen’, liberalen Demokratie entgegensetzt.
Es gibt aber noch kein Land, in das wir reisen und uns das ansehen könnten. Einer muss vorangehen, wie bei jeder Innovation. Und diese ist eine, zu der unsere Überflussgesellschaften nun die historische Möglichkeit bieten. Es gibt aber immerhin Vorformen und gesellschaftliche Sozialsysteme, die der Idee schon ein Stück weit entgegenkommen, sowie einzelne Experimente wie jenes der kanadischen Stadt Dauphin. Dort wurde Mitte der 1970er Jahre ein großes sozialpolitisches Experiment mit etwa 1.000 Familien durchgeführt. Dessen ‚Mincome’ hatte mehr mit bedingungslosen Grundeinkommen als mit Mindestlohn zu tun.
Wenn schon die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen auf die wirtschaftliche Stabilität in der BRD für viele Wissenschaftler nicht absehbar ist, wie kann man dann eigentlich über theoretische Überlegungen hinaus an die Einführung eines Grundeinkommens denken?
Moldaschl: Diese ‚vielen Wissenschaftler’ müssen aber ganz seltsame, ganz uninformierte und ganz besonders deutsche Wissenschaftler sein, die das nicht können. Schließlich gibt es mittlerweile oder schon lange in den meisten zivilisierten Ländern einen Mindestlohn – und sehr viele Studien über seine nicht komplett völkervernichtenden Auswirkungen.
Über theoretische Überlegungen hinaus muss man natürlich auch praktische Überlegungen anstellen, aber die sind als Überlegungen natürlich auch theoretisch. Also muss man sich Länder ansehen, deren Sozialsysteme ohnehin mehr Elemente beinhalten, die in eine solche Richtung weisen, wie etwa skandinavische Länder. Dazu benötigt man auch entsprechende historische Beispiele, und sollte natürlich etwas tun, was man bei jeder größeren sozialen Innovation tut. Egal ob in Unternehmen, Behörden oder Staaten. Es geht ganz einfach darum, Pilotprojekte und Realexperimente in überschaubaren sozialräumlichen Einheiten durchzuführen.
Welche Folgen sehen Sie für den Arbeitsmarkt, die Preisentwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft?
Moldaschl: "It’s hard to predict, especially the future", soll Churchill gesagt haben. Dass man es erproben sollte, um Erfahrungen damit zu machen und begründetere Prognosen abgeben zu können, hatte ich bereits empfohlen. Hier nun entsprechende Szenarien hinsichtlich der genannten drei Dimensionen zu skizzieren, verbietet schon der verfügbare Raum. Also begnüge ich mich mit zwei Sätzen.
Erstens: Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wären enorm! Man stelle sich nur vor, die Nachfrager von Arbeit müssten diese so gestalten, dass sie attraktiv ist, inhaltlich interessant, mit menschlichen Interaktionsmöglichkeiten und Umgangsformen. Schrecklich, nicht? Zweitens: Es gibt gute Argumente dafür, dass das bedingungslose Grundeinkommen für eine Preisstabilität sorgen würde, wie wir sie in der bedingungslosen Konkurrenzwirtschaft im Durchschnitt nicht haben, aber die sind natürlich umstritten.
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist wohl das Komplexeste aller Aggregate wirtschaftswissenschaftlicher Beobachtung. Schließlich fließt in diese Größe wirklich alles ein: Produktivität, Bildung, das Humankapital der Bevölkerung, das Sozialkapital derselben, die Qualität der Arbeit. Nur soviel kann man sagen: Nur für die wenigsten Menschen in einem Land dürfte das Grundeinkommen eine befriedigende Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeit bieten, es würde also einen Qualitätswettbewerb um höherwertige und produktivere Arbeit geben.
Würde ein Grundeinkommen nicht dazu führen, dass für in unteren Lohngruppen Beschäftigte kein Anreiz mehr für eine Arbeitsaufnahme besteht und mit verstärkter Zuwanderung aus einkommensschwachen Staaten zu rechnen ist?
Moldaschl: Zuerst einmal haben wir in Deutschland fünf Millionen Menschen, die nicht in den Arbeitsprozess hineinkommen. In den südeuropäischen Ländern sind es noch viel mehr. Es ist Ausdruck einer zu überwindenden Denkweise, nur in Anreizkategorien zu denken. Zweifellos ist das Grundeinkommen aber ein Hebel, der die Menschen soweit frei macht, nicht mehr Arbeit um jeden Preis und zu jeglichen Bedingungen anzunehmen. Aber genau das ist Absicht! Zweitens gilt es, im Zeitalter der ‚Freizügigkeit’ beziehungsweise der Arbeitskräftemobilität, auf die man dieses schöne Wort verschrumpfmarktet hat, jede nationale Politik hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem transnationalen Kontext zu prüfen. Wie sich die EU nach außen abschottet, ist ohnehin kaum mehr steigerungsfähig und intern lassen sich unschwer Regelungen denken, wie man Zuzug aus nur diesem Grunde regulieren kann.
Die Einführung eines Grundeinkommens für alle ist vom Staat allein nicht finanzierbar. Würde eine zusätzliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen nicht zum Ende unserer Gesellschaftsform führen?
Moldaschl: Der Staat sind wir, nur manche machen sich aus dem Staub, wenn sie viel beizutragen hätten. Dass das Grundeinkommen gerade in der konservativen Schweiz viel intensiver diskutiert wird als in Deutschland, hat sicher auch damit zu tun, dass die Schweiz ein viel solidarischeres, auf breiterer Basis stehendes Rentensystem hat. Dieses kann man praktisch als Ausgangspunkt von Strategien einer Umgestaltung ansehen. Insofern kann man sich ihr ‚unverriestertes’ und ziemlich zukunftsfestes Drei-Säulen-Modell auch als Vorbild für die Umgestaltung des deutschen Rentensystems vorstellen, quasi als Zwischenschritt bei der Vorbereitung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Titelbild: Kopf oder Zahl
Bilder im Text: | Kopf oder Zahl