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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Karneval steht heute für Büttenreden, Fernseh-Sitzungen, große Umzüge und ausufernde Partys. Woher kommt die Idee der fünften Jahreszeit?
Prof. Dr. Dirk Baecker: Wie bei fast allen schönen Festen ist der historische Hintergrund des Karnevals heidnisch. Es ging darum, den Frühling zu begrüßen, die bösen Geister der dunklen Jahreszeit zu vertreiben und vermutlich auch darum, jene Gleichheit unter allen Menschen zu würdigen, die in Zeiten der Not zu beobachten ist, und zugleich für den Sommer zu verabschieden. Man kennt das von den Eskimos, die den Winter nur überstanden, in dem sie zusammenhielten und die immer spärlicher (und immer ungenießbarer) werdenden Vorräte gemeinsam verzehrten. Paradoxerweise galt die Zeit der Not auch als Zeit des Feierns, das dabei half, die Not auszuhalten. Marcel Mauss hat dies für die Eskimos eindrücklich beschrieben. Im Sommer hingegen verließen die Familien die Gemeinschaftsiglus, suchten sich ihre eigenen Zeltplätze, lebten in einem relativen Überfluss – und erlebten diese Zeit als Zeit der Depression. Der Karneval hat noch etwas von diesem Abschied und dieser Vorbereitung auf weniger Not und mehr Isolation. Die Kirche konnte sich hier mit ihrer Fastenzeit aufs Beste einpassen. Man feiert noch einmal, fastet und wartet auf den Frühling.
Warum sucht sich die Gesellschaft eigentlich solche Feste, die dann fast „ikonisiert“ werden - ähnliche Tendenzen ließen sich ja auch beim Oktoberfest o.ä. beobachten?
Baecker: Die Gesellschaft braucht immer beides, Rituale des gemeinsamen Feierns und Spielräume für individuelle Entscheidungen. Man hält das eine nur aus, wenn es auch das andere gibt. Die Kölner haben dafür am Veilchendienstag in der Nacht auf den Aschermittwoch, wenn alles vorbei ist, das Ritual der Nubbelverbrennung. Der Nubbel ist eine meist elegant in einen schwarzen Anzug gekleidete mannsgroße Strohpuppe, die während der tollen Tage in jeder Kneipe, die auf sich hält, als Maskottchen Wache hält und dann gegen Mitternacht aus der Kneipe herausgetragen und vor der Kneipe verbrannt wird. Das ist der melancholischste Moment des Kölner Karnevals. Und natürlich geht man danach nicht nach Hause, sondern wieder zurück in die Kneipe und feiert weiter bis zum Morgengrauen. Der Nubbel steht für das einzelne Individuum, das jeder Kölner nach dem Ende des Karnevals wieder werden muss – und das natürlich kein Kölner jemals wirklich wird, weil man nur auf ein Kölsch wieder die nächste Kneipe aufzusuchen braucht, um wieder Kölner unter Kölnern sein zu können.
Gerade Karneval spaltet die Gesellschaft in zwei Lager: Die begeisterten „Jecken“ und die „Muffel“. Warum polarisiert die fünfte Jahreszeit eigentlich so sehr?
Baecker: Ich würde sagen, die einen verstehen es, die anderen nicht. In Köln genauso wie in Basel ist außerdem zu beobachten, dass es zwei Typen von überzeugten Karnevalisten beziehungweise Fasnächtlern gibt: Menschen, die in ihrer Stadt meist seit Generationen verwurzelt sind, und Menschen, die in der Fremde wohnen und bei dieser Gelegenheit nach Hause kommen. Wer aber weder verwurzelt ist noch in der Fremde wohnt, fremdelt meistens mit dem Karneval, weil die Lustigkeit aufgezwungen wirkt und die Rituale allzu mechanisch daherkommen. Dieser dritte Typ flieht aus der Stadt während der Karnevalstage, um Skifahren oder an der Nordsee Spazieren zu gehen.
Diese Frage geht zwar eher in eine psychologische Richtung, aber lässt sich eigentlich etwas über den Zusammenhang zwischen dem Kostüm und dem eigenen Charakter sagen?
Baecker: Kostüm und Charakter sind soziale Tatbestände, aber Sie haben Recht, ihre jeweilige Kombination reicht ins Psychische. Dementsprechend vorhersehbar ist die Antwort. Kostüme können den vermeintlichen Charakter zum Ausdruck bringen, sie können Defizite des Charakters kompensieren und sie können, das finde ich am interessantesten, Versuche der Zugehörigkeit signalisieren, die im Alltag offenbar eher scheitern.
Ein kleines PS von meiner Seite: Feiert eigentlich auch Dirk Baecker Karneval? Und als was würden Sie sich verkleiden?
Baecker: Ich habe mich am Kölner Karneval beteiligt, solange ich in Bielefeld wohnte, allenfalls mit einer roten Knollennase verkleidet. In Basel bin ich Tourist, der die Rituale bewundert. Und in Basel verkleidet man sich nicht. Man trägt nur Larven, wenn man einer Clique angehört. In Basel ist die Fasnacht eine ernste Angelegenheit. Deswegen beginnt sie hier erst am Aschermittwoch, wenn sie an allen anderen Orten bereits vorbei ist.
Titelbild: Zeppelin Universität / Leo Fenster
Bilder im Text: Andreas Praefcke / Wikimedia Commons, Zeppelin Universität / Leo Fenster