Sie befinden sich im Archiv von ZU|Daily.

ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.

Von Karneval bis Fasnet

Gockelores Kikeriki!

Ich habe mich am Kölner Karneval beteiligt, solange ich in Bielefeld wohnte, allenfalls mit einer roten Knollennase verkleidet. In Basel bin ich Tourist, der die Rituale bewundert.

Prof. Dr. Dirk Baecker
 
  •  
    Zur Person
    Prof. Dr. Dirk Baecker

    Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.

  •  
    Mehr ZU|Daily
    Die Kunst, anzufangen
    Ohne Lektüre in die Feiertage? Noch kein Buchgeschenk für Weihnachten? Damit das nicht vorkommt, empfehlen ZU-Forscher ihre Lieblingsschmöker - zum Verschenken oder zum Selberlesen.
    Geheimdienste außer Kontrolle
    Ihrem Namen nach sollten Geheimdienste im Verborgenen operieren. Doch Edward Snowden hat ihr Handeln öffentlich gemacht. Dirk Baecker wirft einen soziologischen Blick auf den NSA-Skandal und erklärt, was instabile Informationen sind.
    Zwischen Macht und Moral
    Seit Jahren spähen Politiker enge Vertraute aus. Vor Lampedusa sterben Menschen beim Versuch Europa zu erreichen. Und auf den globalen Märkten handeln Banker mit Nahrungsmitteln. Dirk Baecker auf der Suche nach der Moral.
  •  
     
    Hä...?
    Haben Sie Fragen zum Beitrag? Haben Sie Anregungen, die Berücksichtigung finden sollten?
    Hier haben Sie die Möglichkeit, sich an die Redaktion und die Forschenden im Beitrag zu wenden.
  •  
    Teilen

Karneval steht heute für Büttenreden, Fernseh-Sitzungen, große Umzüge und ausufernde Partys. Woher kommt die Idee der fünften Jahreszeit?

Prof. Dr. Dirk Baecker: Wie bei fast allen schönen Festen ist der historische Hintergrund des Karnevals heidnisch. Es ging darum, den Frühling zu begrüßen, die bösen Geister der dunklen Jahreszeit zu vertreiben und vermutlich auch darum, jene Gleichheit unter allen Menschen zu würdigen, die in Zeiten der Not zu beobachten ist, und zugleich für den Sommer zu verabschieden. Man kennt das von den Eskimos, die den Winter nur überstanden, in dem sie zusammenhielten und die immer spärlicher (und immer ungenießbarer) werdenden Vorräte gemeinsam verzehrten. Paradoxerweise galt die Zeit der Not auch als Zeit des Feierns, das dabei half, die Not auszuhalten. Marcel Mauss hat dies für die Eskimos eindrücklich beschrieben. Im Sommer hingegen verließen die Familien die Gemeinschaftsiglus, suchten sich ihre eigenen Zeltplätze, lebten in einem relativen Überfluss – und erlebten diese Zeit als Zeit der Depression. Der Karneval hat noch etwas von diesem Abschied und dieser Vorbereitung auf weniger Not und mehr Isolation. Die Kirche konnte sich hier mit ihrer Fastenzeit aufs Beste einpassen. Man feiert noch einmal, fastet und wartet auf den Frühling.

Typisch Schwäbisch: Ein Hopfennarr aus Tettnang bei der schwäbisch-alemannischen Fasnet. Der Entwurf zu "Häs" und Maske stammt aus dem Jahr 1953 und lehnt sich thematisch an eine Figur des späten 19. Jahrhunderts an.
Typisch Schwäbisch: Ein Hopfennarr aus Tettnang bei der schwäbisch-alemannischen Fasnet. Der Entwurf zu "Häs" und Maske stammt aus dem Jahr 1953 und lehnt sich thematisch an eine Figur des späten 19. Jahrhunderts an.

Warum sucht sich die Gesellschaft eigentlich solche Feste, die dann fast „ikonisiert“ werden - ähnliche Tendenzen ließen sich ja auch beim Oktoberfest o.ä. beobachten?

Baecker: Die Gesellschaft braucht immer beides, Rituale des gemeinsamen Feierns und Spielräume für individuelle Entscheidungen. Man hält das eine nur aus, wenn es auch das andere gibt. Die Kölner haben dafür am Veilchendienstag in der Nacht auf den Aschermittwoch, wenn alles vorbei ist, das Ritual der Nubbelverbrennung. Der Nubbel ist eine meist elegant in einen schwarzen Anzug gekleidete mannsgroße Strohpuppe, die während der tollen Tage in jeder Kneipe, die auf sich hält, als Maskottchen Wache hält und dann gegen Mitternacht aus der Kneipe herausgetragen und vor der Kneipe verbrannt wird. Das ist der melancholischste Moment des Kölner Karnevals. Und natürlich geht man danach nicht nach Hause, sondern wieder zurück in die Kneipe und feiert weiter bis zum Morgengrauen. Der Nubbel steht für das einzelne Individuum, das jeder Kölner nach dem Ende des Karnevals wieder werden muss – und das natürlich kein Kölner jemals wirklich wird, weil man nur auf ein Kölsch wieder die nächste Kneipe aufzusuchen braucht, um wieder Kölner unter Kölnern sein zu können.

Gerade Karneval spaltet die Gesellschaft in zwei Lager: Die begeisterten „Jecken“ und die „Muffel“. Warum polarisiert die fünfte Jahreszeit eigentlich so sehr?

Baecker: Ich würde sagen, die einen verstehen es, die anderen nicht. In Köln genauso wie in Basel ist außerdem zu beobachten, dass es zwei Typen von überzeugten Karnevalisten beziehungweise Fasnächtlern gibt: Menschen, die in ihrer Stadt meist seit Generationen verwurzelt sind, und Menschen, die in der Fremde wohnen und bei dieser Gelegenheit nach Hause kommen. Wer aber weder verwurzelt ist noch in der Fremde wohnt, fremdelt meistens mit dem Karneval, weil die Lustigkeit aufgezwungen wirkt und die Rituale allzu mechanisch daherkommen. Dieser dritte Typ flieht aus der Stadt während der Karnevalstage, um Skifahren oder an der Nordsee Spazieren zu gehen.

Typisch Zeppelin Universität: Auch an der ZU ist die Fasnet seit Jahren fest verankert. Jedes Jahr stürmen dutzende Narren am "Gumpigen Dunschtig" um 11 Uhr den Campus. Mit Musik, Berlinern, Sekt und DJ Prof. Dr. Stephan Jansen ist dann keine Vorlesung mehr sicher.
Typisch Zeppelin Universität: Auch an der ZU ist die Fasnet seit Jahren fest verankert. Jedes Jahr stürmen dutzende Narren am "Gumpigen Dunschtig" um 11 Uhr den Campus. Mit Musik, Berlinern, Sekt und DJ Prof. Dr. Stephan Jansen ist dann keine Vorlesung mehr sicher.

Diese Frage geht zwar eher in eine psychologische Richtung, aber lässt sich eigentlich etwas über den Zusammenhang zwischen dem Kostüm und dem eigenen Charakter sagen?

Baecker: Kostüm und Charakter sind soziale Tatbestände, aber Sie haben Recht, ihre jeweilige Kombination reicht ins Psychische. Dementsprechend vorhersehbar ist die Antwort. Kostüme können den vermeintlichen Charakter zum Ausdruck bringen, sie können Defizite des Charakters kompensieren und sie können, das finde ich am interessantesten, Versuche der Zugehörigkeit signalisieren, die im Alltag offenbar eher scheitern.

Ein kleines PS von meiner Seite: Feiert eigentlich auch Dirk Baecker Karneval? Und als was würden Sie sich verkleiden?

Baecker: Ich habe mich am Kölner Karneval beteiligt, solange ich in Bielefeld wohnte, allenfalls mit einer roten Knollennase verkleidet. In Basel bin ich Tourist, der die Rituale bewundert. Und in Basel verkleidet man sich nicht. Man trägt nur Larven, wenn man einer Clique angehört. In Basel ist die Fasnacht eine ernste Angelegenheit. Deswegen beginnt sie hier erst am Aschermittwoch, wenn sie an allen anderen Orten bereits vorbei ist.


Titelbild: Zeppelin Universität / Leo Fenster

Bilder im Text: Andreas Praefcke / Wikimedia CommonsZeppelin Universität / Leo Fenster

12
12
 
 
Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Videos und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.