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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London. 1996 wurde er an die Universität Witten/Herdecke berufen, wo er das Management Zentrum Witten mitgründete und den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel und später den Lehrstuhl für Soziologie innehatte.
Geheimdienste arbeiten nur dann stabil und damit unter politischer Kontrolle, wenn sie jede ihrer Informationen für instabil halten müssen. Das gilt für die Informationen, zu denen sie sich Zugang verschaffen, und für die Informationen, die sie hüten. Denn nur unter der Bedingung instabiler Informationen müssen sie deren Bewertung der Politik überlassen. Im Falle aller eindeutigen Informationen behalten sie das Deutungsmonopol und können darauf ihre Autonomieansprüche und ihren Einfluss begründen. Dieser Einfluss wird umso größer, je umfassender behauptet werden kann, dass auch die Interpretation der Informationen von weiteren Informationen abhängt, die erst noch erworben werden müssen. Unter diesen Bedingungen sitzt die Politik in der Falle des Informationsmonopols der Geheimdienste.
Auf die Paradoxie einer stabilen Instabilität als Voraussetzung funktionaler und kontrollierbarer Geheimdienste hat der Soziologe Erving Goffman in einer Untersuchung der Interaktion von Spion und Informant bereits in den 1960er Jahren aufmerksam gemacht („Expression Games: An Analysis of Doubts at Play“, in: ders., Strategic Interaction, Philadelphia, PA, 1969). Unter den hochtechnologischen Bedingungen der Gegenwart ändert sich an der Diagnose nichts, weil es gleichgültig ist, ob die Informationen, mit denen Geheimdienste handeln, aus Gesprächen, ausspionierten Akten, beobachteten Begegnungen oder Webrecherchen stammen.
Informationen sind unter zwei Bedingungen instabil. Erstens können sie instabil sein, wenn der, der sie hat, nicht weiß, ob andere sie auch haben. Da man Informationen stehlen kann, ohne dass sie anschließend ihrem Besitzer fehlen, kann der Besitzer nicht wissen, wer längst weiß, was er selber auch weiß. Instabil ist die möglicherweise längst gestohlene Information deswegen, weil der Dieb Schlüsse aus ihr zieht, die die Schlüsse konterkarieren, die der Besitzer aus ihnen zieht. Also kommen Bewertungsspielräume und Bewertungsspiele ins Spiel, die es nicht gibt, wenn sich der Besitzer seiner Informationen sicher fühlt.
Und zweitens können Informationen instabil sein, wenn derjenige, der sie sich beschafft, nicht weiß und auch nicht herausfinden kann, in welchem Umfang sie manipuliert sind. Das ist das älteste Spiel von allen. Wie kann ich einen anderen etwas wissen lassen, was ich ihn wissen lassen möchte, damit er sich auf Schlussfolgerungen einlässt, die in meinem Interesse sind? Und wie, umgekehrt, findet der andere heraus, ob Informationen in diesem Sinne manipuliert sind oder nicht?
Goffman stellt diese Frage nicht nur im Hinblick auf Geheimdienste. Dieselben „Spiele“ kann man unter Geschäftspartnern, Liebenden, zwischen Priester und Gläubigen, Arzt und Patient, Berater und Unternehmer beobachten. Immer wieder geht es darum, die Mitteilungen des anderen daraufhin zu überprüfen, inwieweit ihr Inhalt nichts anderes als ein Köder ist, der bestimmt ist, den Adressaten der Mitteilung glauben zu lassen, was dieser andernfalls nicht glauben würde. Und immer wieder geht es darum, die Signale der Glaubwürdigkeit, Authentizität, Spontaneität und Naivität, die uns zur Verfügung stehen, um genau diesen Verdacht der fabrizierten Information zu zerstreuen, daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie ihrerseits fabriziert sind. Aber wie macht man das, ohne andererseits beim anderen den Verdacht zu erwecken, dass man ihn der Täuschung verdächtigt?
Es ist daher alles andere als zynisch, wenn der amerikanische Geheimdienstchef den Europäern vorwirft, nur noch über technologisch rückständige Geheimdienste zu gebieten. Er fürchtet um seine eigene Macht, die in dem Moment gefährdet ist, wenn er zu mächtig wird. Er braucht starke gegnerische Geheimdienste, die es ihm erlauben, seine eigene Interaktion mit der amerikanischen Regierung so ambivalent zu halten, dass er im Spiel bleibt und nicht etwa herausgekickt wird, weil ihn niemand mehr kontrollieren kann. Wenn jedoch die „befreundeten“ Geheimdienste der europäischen Partner ihre Rolle darauf beschränken, sich von den Amerikanern bedienen zu lassen und ihnen zuzuspielen, fehlt jener Widerpart, der es erlaubt, von unsicheren Informationen auszugehen. Nur unsichere Informationen bringen über ihre noch offene Interpretation die Politik so ins Spiel, dass niemand fürchten muss, dass die Geheimdienste übermächtig werden.
Die Europäer kommen darum im Interesse ihrer befreundeten Partner nicht darum herum, ihre eigenen Geheimdienste technologisch, strategisch und taktisch so aufzurüsten, dass die amerikanischen, chinesischen, arabischen und sonstigen Geheimdienste (a) nie wissen, ob die eigenen Informationen nicht bereits längst auch im Besitz der europäischen Geheimdienste sind, und (b) jede der Informationen, die die gegnerischen Geheimdienste sammeln, dem Verdacht der geschickten Manipulation durch die eigenen Geheimdienste unterliegt. Erst dann ist jede einzelne Information hinreichend instabil, um der Politik eine stabile Kontrolle ihrer Auswertung zu erlauben.
Goffman nannte seinerzeit nicht nur eine, sondern zwei systematische Instabilitätsbedingungen der Arbeit von Geheimdiensten. Die zweite Bedingung besteht darin, dass auch Geheimdienste Menschen beschäftigen müssen, sei es als Spione oder als Informanten. Menschen sind jedoch grundsätzlich nicht nur Funktionäre der Informationen, in deren Besitz sie sind oder kommen wollen, sondern zugleich auch „care-taker“, das heißt Leute, die sich Sorgen machen und Dritte zu schützen versuchen können. Das bedeutet, dass man, sobald es solche Dritten gibt (Familie, politische Solidaritäten, unternehmerische Interessen, Prestigegewinn), nie weiß, welche Informationen an Adressen weitergegeben werden, von denen man glaubte, dass sie am Spiel gar nicht teilnehmen. Auch diese Instabilitätsbedingung ist nicht etwa ein Defizit der Geheimdienste, sondern eine Bedingung dafür, dass sie im Dunkelfeld eines immer wieder nachgefütterten Nichtwissens ihrer Aufgabe nachgehen können, Licht in dieses Nichtwissen zu bringen.
Goffman greift auf eine interessante Kategorie zurück, um den Gewinn stabiler Verhältnisse aus instabiler Information einerseits und die Rolle dieser stabilen Verhältnisse für die Sicherstellung instabiler Information andererseits zu beschreiben. Diese kybernetisch makellose Zirkularität ist nur garantiert, wenn Informationsaustausch im „Team“ stattfindet. Gemeint ist eine Mehrzahl von Personen, die mit unterschiedlichen Interessen, Rücksichten und Absichten auf beiden Seiten der Spionageoperationen aufgestellt sind. Sowohl im eigenen als auch im gegnerischen Geheimdienst, sowohl unter den Ausspionierten als auch unter den Spionen muss es verteilte Stimmen geben, die sich gegenseitig verdächtigen, decken, die Bälle zuspielen und Knüppel zwischen die Beine werfen können. Dabei schadet es, wie wir aus John Le Carrés Romane wissen, nicht, wenn man sich überdies auch kennt. Im Gegenteil, das erlaubt weitere Misstrauen sicherstellende Vertrauensspiele. Aus diesem Team, wenn man dem amerikanischen Geheimdienstchef glauben darf (und das darf man natürlich nicht), haben sich die Europäer verabschiedet.
Titelbild: Tom Blackwell (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text: Emory Allen (CC BY-NC 2.0) | zorro delavega (CC BY 2.0)