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Peer Ederer studierte in Tokio und Havard, forschte und arbeitete unter anderem bei der Deutschen Bank und der Unternehmensberatung McKinsey. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich mit den Zusammenhängen zwischen Humankapital, Wachstum und Innovation. Peer Ederer leitet an der Zeppelin Universität das HUGIN Center for Human capital, Growth & Innovation.
"Wir haben das Bestreben, alles in Systeme zu packen", charakterisiert Ederer die aktuellen Denkschemata der deutschen Wirtschaft und sieht darin ein zum Scheitern verurteiltes Paradigma. Denn diese festen Systeme sind einem stetigen Prozess von Veränderungen aus unterschiedlichsten Quellen ausgesetzt, welcher die bisherige Vorgehensweise zunichte macht. Die Differenz zwischen dem geplanten Ergebnis und sich ergebenden Status Quo müsse dann durch improvisiertes Handeln überbrückt werden, analysiert der Wissenschaftler. In vielen Fällen werde somit ohnehin schon außerhalb geplanter Abläufe und damit entsprechend ineffizient gehandelt. Wenn diese Differenzen verhindert werden sollen, müssten für alle Eventualitäten passende Szenarien entwickelt werden, das Ausmaß solcher Planungen wäre unüberschaubar. Ganz praktisch gedacht: Würde man für jede Eventualität eine Anweisung in einem Handbuch manifestieren, es wäre endlos. Die Relevanz des Problems zeigt sich auch in seiner Reichweite: "Es existiert in einem Unternehmen keine Abteilung, die nicht von solchen Veränderungen betroffen ist", kommentiert Ederer.
Doch wie lässt sich dieses theoretische Gedankenspiel in die Realität umsetzen? „Mit der komplexen Problemlösungskompetenz ist es wie mit einem Muskel“, erklärt Prof. Dr. Ederer, „man muss die Fähigkeit erst aufbauen und dann regelmäßig trainieren.“ Dabei geht es um nichts anderes als die ganz praktische Weiterbildung von Mitarbeitern. Diese sollten mit Problemen konfrontiert werden, welche sie eigenständig lösen müssen. In diesem Prozess entwickeln die Arbeitnehmer die passenden Strategien, trainieren diese, und erlangen dann neben besseren Fähigkeiten in der Problemlösung ganz persönliche Vorteile.
„Zum einen werden die Betroffenen nicht panisch und apathisch, wenn sie mit komplexen Zusammenhängen konfrontiert werden, vor allem aber stärken sie mit dieser Arbeit ihr Selbstvertrauen“, kommentiert Ederer. Zum Beispiel gibt es die Strategie, in einer fehlerhaften Situation immer nur eine Variable des Gesamtbildes zu verändern, um so den Störfaktor eingrenzen und gezielt bearbeiten zu können, in der englischen Sprache gern als Votat („vary one thing at a time“) bezeichnet. In der Medizin finde diese Idee Anwendung, erläutert der Honorarprofessor, etwa, wenn bei einer Lebensmittelallergie nacheinander auf verschiedene Produkte verzichtet werde, um den Auslöser der allergischen Reaktion festzustellen.
Folgt man der Annahme, dass Unternehmen stets so effizient wie möglich arbeiten wollen, stellt sich die Frage, weshalb die Improvisation noch immer keinen flächendeckenden Einzug in deutsche Büros gehalten hat. Professor Ederer sieht dieses Phänomen besonders kulturell begründet: "Wir mögen das halt so", kommentiert er und spiel auf die minutiöse Planung von Handlungsabläufen an, die besonders in technischen Unternehmen zum Alltag gehören. Diese Kultur des fehlerlosen Arbeitens oder auch "ISO9001-Kultur", sei eine Management-Mode, die sich vor circa zwei Jahrzehnten etabliert habe und noch immer Anwendung finde. Dabei würden die imaginären und faktischen Handbücher der Unternehmen immer umfangreicher und komplexer, das System sei aber langfristig nicht überlebensfähig. Durch die Entstehung immer neuer Technologien erfahre die nationale wie internationale Wirtschaft zunehmende Variabilität und erfordere folglich mehr Flexibilität seitens der Firmen. Ederer resümiert: "Die Fähigkeit zu improvisieren wird in Zukunft definitiv an Bedeutung gewinnen."
Trotz aller Vorzüge der Improvisation sieht der Wissenschaftler eine große Gefahr im spontanen Umgang mit sich ergebenden Problemen: Unzuverlässigkeit. Die Fähigkeit, gut zu improvisieren, dürfe nicht als Entschuldigung für fehlende Zuverlässigkeit dienen, mahnt Peer Ederer und fordert, diese als zentrales Element neben den improvisierten Handlungen zu etablieren. Ehrlichkeit sei im Berufsalltag von größter Bedeutung und so dürften Arbeitnehmer weder qualitative noch quantitative Versprechen machen, deren Erfüllung sie nicht vollends garantieren können: "Niemand darf unrealistische Ziele oder Termine zusagen, die er oder sie nicht halten kann."
Betrachtet man die Idee der Improvisation in der Wirtschaft in ihrer Ganzheit, lassen sich schnell Parallelen zum Alltag außerhalb der Bürowände ziehen. Ob eine defekte Warmwasser-Versorgung oder das misslungene Drei-Gänge-Menü für die Liebsten daheim: improvisierte Handlungen gehören zu den grundlegendsten Handlungsabläufen im privaten Raum. So sieht es auch Prof. Dr. Peer Ederer selbst: "Auch bei mir persönlich ist die Improvisation ununterbrochene Praxis. Ich würde sagen, gut 80 Prozent meiner alltäglichen Arbeit sind improvisierte Antworten auf unerwartete Probleme."
Titelbild: Becky Wetherington / flickr.com (CC-BY-2.0)
Bilder im Text: © Aude Vanlathem / www.audevan.com / Wikimedia Commons/ CC-BY-2.5-CA, via Wikimedia Commons
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