ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Prof. Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Warum haben Sie das Wort „Gesellschaft" ausgewählt und was bedeutet es für Sie?
Prof. Dr. Dirk Baecker: Das Wort „Gesellschaft“ ist eine der zentralen Herausforderungen der Soziologie. Schnell als der „eigentliche“ Gegenstand der Soziologie entdeckt, warnten bereits die Klassiker vor einer Substantivierung des Wortes und plädierten stattdessen, etwa bei Max Weber, für den prozessualen und damit offenen Begriff der Vergesellschaftung.
Natürlich gibt es „die“ Gesellschaft nicht. Aber es gibt einen intervenierenden Faktor, den man „Gesellschaft“ nennen kann, der allzu genügsame Prozesse einer familiären Selbstverständigung, einer organisationalen Strategiefindung oder der unbekümmerten Autopoiesis von Politik, Wirtschaft, Recht, Religion und Wissenschaft daraufhin herunterbricht, dass soziale Kontexte eine Rolle spielen und nicht übersehen werden dürfen. In der Gesellschaft lockt die Möglichkeit anderer Möglichkeiten. Nur dafür, nicht für das in sich abgeschlossene Große und Ganze, das es seit dem abendländischen Ausstieg aus kosmologischen Weltmodellen nicht mehr gibt, braucht man den Begriff der Gesellschaft.
In welchem wissenschaftlichen Kontext haben Sie das Wort zuletzt benutzt?
Baecker: In meinem Buch „Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie“ habe ich ironisch vom „Ganzen der Gesellschaft“ gesprochen, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, vor welchem Horizont sozialer Möglichkeiten Beobachter auf die Idee kommen können, neue Unterscheidungen in bewährte Situationen zu schmuggeln — zur Freude und zum Ärger anderer Beobachter, die gerne beim Bewährten blieben. Ich habe hier auf den Begriff der Intrige zurückgegriffen. Die Gesellschaft, so könnte man sagen, ist selbst eine Intrige, die sich dagegen wehrt, zuweilen auch darauf beharrt, Konventionen Konventionen sein zu lassen.
Eine spezifische Frage zum Wort: Was hat sich durch die Einführung des Begriffes „Gesellschaft“ verändert?
Baecker: Auguste Comte hat in den 1830er Jahren eine Soziologie erfunden, die den Begriff der „Gesellschaft“ braucht, um gegen die Idee zu opponieren, es gäbe so etwas wie abgeschlossene, isolierbare soziale Sachverhalte. Es gab dann Soziologen, die geglaubt haben, die Gesellschaft sei selbst das einzige plausible Beispiel für einen solchen abgeschlossenen Sachverhalt. Aber Talcott Parsons ebenso wie Niklas Luhmann haben gezeigt, dass eine Gesellschaft nichts anderes ist als ein Begriff für die Einheit der Differenz von Differenzierung und Integration. Man kann dann Stämme, Schichten, Funktionssysteme oder Netzwerke untersuchen, wird jedoch immer wieder auf Phänomene stoßen, die gegenüber dem empfindlich sind, wovon sie sich abgrenzen, und zumindest in dieser Form integrative Tendenzen aufweisen. Andere Soziologen wie vor allem Emile Durkheim haben sich dann Gedanken darüber gemacht, wie man sozialen Akteuren ein Gefühl für diese abstrakte Integration vermitteln kann, um dem Eindruck entgegenzutreten, in Gesellschaft sei Anomie, also Ordnungsverlust, normal. Solche Pädagogik konnte sich nicht durchsetzen. Heute untersuchen empirische Sozialforscher die erstaunlichen Beharrungskräfte sozialer Strukturen wie Herrschaft, Ungleichheit, Reichtum, Armut und Elitenbildung. Und Vertreter der soziologischen Theorie untersuchen Ordnungsverlust als Moment der Regeneration von Gesellschaft. Die Soziologie ist sich nicht einig. Typisch Gesellschaft."
Wissensgesellschaft. Industriegesellschaft. Altersgesellschaft. Digitale Gesellschaft. Es scheint, als würde Gesellschaft zum Modewort werden. Welche „echte“ Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren entwickelt? Und welche Veränderungen haben momentan das Zeug, zu einer „neuen“ Gesellschafts(form) zu werden?
Baecker: Es gibt so viele Gesellschaften wie es Beobachter gibt, die glauben, bestimmte Aspekte auf Kosten anderer Aspekte für besonders wichtig halten zu können. So vertrete ich die Auffassung einer „nächsten Gesellschaft“, die mit dem Auftreten von elektronischen Medien die moderne Buchdruckgesellschaft beerbt. Aber diese Auffassung kann man nur vertreten, wenn man glaubt, dass es „dominierende“ Verbreitungsmedien wie die Sprache (tribale Gesellschaft), die Schrift (antike Gesellschaft), den Buchdruck (moderne Gesellschaft) oder eben die elektronischen Medien gibt (eben die nächste Gesellschaft). Und man kann sie nur vertreten, wenn man glaubt, dass diese relativ grobe Heuristik der Rede von vier und nur vier Medienepochen der menschlichen Gesellschaft soziologisch geeignet ist, aktuelle Problemstellungen der Reformatierung sozialer Phänomene zu beobachten und zu beschreiben. Wir stehen demnach mitten im Übergang von der "modernen" zur "nächsten Gesellschaft. "Und wir lernen mühsam, die Dynamisierung zu begreifen, die der Buchdruck mit sich brachte (Aufklärung, Kritik, Rationalität), und uns mit den Herausforderungen zu beschäftigen, vor die uns die elektronischen Medien stellen (Kommunikation, Kontrolle, Komplexität).
Und wie bringen Sie diese vier Medienepochen der Entwicklung der Gesellschaft mit dem Stichwort der „Gesellschaft“ als intervenierendem Faktor in Verbindung? Ist die „nächste Gesellschaft“ ebenso wie die „moderne“, die „antike“ und die „tribale“ Gesellschaft nicht mehr als das, nämlich die Vorstellung einer Makroordnung?
Baecker: Ja, das hört sich so an, aber es wäre tatsächlich anders zu denken. Jede dieser vier Gesellschaftsformen benennt eine Horizontvorstellung für die Frage nach der Rahmung einer aktuellen Handlung oder Kommunikation und die Frage danach, was jenseits dieses Rahmens liegt. Dann sieht man, dass die "tribale Gesellschaft", wie Niklas Luhmann dies beschrieben hat, die Grenzen ihrer Kommunikation wesentlich über Fragen der Moral und des Geheimnisses regelt, die "antike Gesellschaft" über Fragen von Ethos, List und Schicksal, die "moderne Gesellschaft" über Fragen der Identität, der Funktion und des Gleichgewichts und die "nächste Gesellschaft" über Fragen der Vernetzung, der Krise und des Algorithmus. Das sind natürlich nur Stichwörter. Aber sie benennen das, was man die Kulturform einer Gesellschaft nennen könnte, die Art und Weise, wie eine sehr systemrelative Komplexität mit einer Sinnproduktion beantwortet wird, die das als aktuell beobachtete mit dem für potentiell gehaltenen verknüpft. Und in genau dieser Form sind diese Gesellschaften jeweils intervenierende Faktoren, die Akteuren, Familien, Institutionen, Milieus, Märkten und Öffentlichkeiten dabei helfen, sich zu orientieren.
Gesellschaft wird so zum höchst realen Imaginären jeder sozialen Ordnung. Dieses Imaginäre greift über unsere Vorstellungskraft hinaus; und zugleich ist es abhängig von unseren Entwürfen.
Titelbild: Larces / flickr.com (CC-BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: Sertified su / flickr.com (CC-BY 2.0)
Collage Medienepochen der menschlichen Gesellschaft:
Klearchos Kapoutsis / flickr.com (CC-BY 2.0),
Charles Tilford / flickr.com (CC-BY-NC-SA 2.0),
Willi Heidelbach / flickr.com (CC-BY 2.0),
Sacha Fernandez / flickr.com (CC-BY-NC-ND 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Maria Tzankow & Alina Zimmermann