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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Kants, Fichtes und Hegels Philosophie der Subjektivität ist der erste nennenswerte Vorgriff auf eine Theorie des Beobachters. Sie gipfelt in der Vorstellung eines leeren Ichs, das sich genau deswegen auf eine Welt verwiesen sieht. In dieser Welt kommen theoretische Erkenntnis und praktisches Handeln nie zur Deckung, so dass auch Beobachtung und Beobachter nur als Differenz, als Komplexität zu formulieren sind. Für die Kulturtheorie ein Glücksfall, denn sie lebt davon, den Beobachter nicht nur gegenüber anderen Beobachtern, sondern auch gegenüber seinen Beobachtungen zu relativieren. Professor Dr. Dirk Baecker zeigt mit Hilfe des Formkalküls von George Spencer-Brown, dass dies ein belastbarer Ausgangspunkt ist, um eine Theorie des Beobachters zu formulieren.
Baeckers Werk erscheint Anfang 2013 im Suhrkamp Verlag.
George Spencer-Brown wurde am 02. April 1923 in Grimsby, Lincolnshire geboren und gilt als bedeutender britischer Mathematiker mit einem ausgeprägten Interesse für Schach, die Psychologie, die Psychotherapie, das Paranormale und den Buddhismus. Nach Studien in Cambrigde und Oxford arbeitete Spencer-Brown als Chief Logic Designer im Maschinenbau und entwickelte eine Zählmaschine auf der Grundlage komplexer arithmetischer Signale für British Rail. Als sein wichtigstes Werk gilt das Buch „Laws of Form“, eine Reduktion der Booleschen Algebra auf einen Operator und unter Einschluss des Einbaus von Selbstreferenz, Paradoxie und Zeit. Das Buch erwies sich für die allgemeine Theorie selbstreferentieller Systeme bei Heinz von Foerster und für die Theorie sozialer Systeme bei Niklas Luhmann und auch bei Baecker als außerordentlich anregend, weil es die Möglichkeit beschreibt, mit Selbstreferenz und Leerstellen unter Einbezug von Zeit zu rechnen.
Der Begriff der Bobachtung ist weit gefasst. In der Naturwissenschaft werden systematische, objektive und wiederholbare Beobachtungen gemacht. Subjektive Beobachtungen sind von unmittelbaren Bedürfnissen des Beobachters abhängig. Wie lässt sich das vereinbaren?
Professor Dr. Dirk Baecker: Die wissenschaftliche Wiederholbarkeit einer Beobachtung ist eine besondere institutionelle Vorkehrung, um subjektive Beobachtungen so zu koordinieren und aufeinander abzustimmen, dass sie als objektiv behauptet werden, das heißt von „bloß“ subjektiven, möglicherweise zufälligen Elementen gereinigt werden können. Objektivität ist hier das Erkennungsmerkmal einer Kommunikation zwischen nach wie vor subjektiven Beobachtern. Seit überdies in der Kulturtheorie, in der Ideologiekritik, in der Psychoanalyse, in der Relativitätstheorie, in der Quantenphysik, in der Philosophie des Bewusstseins und in der Philosophie der Sprache entdeckt worden ist, dass die Ergebnisse der Beobachtung eines Gegenstandes davon abhängig sind, welche Perspektive der Beobachter einnimmt, welche Interessen er hat, welche Energie er aufwendet, welche Vorstellungen und Erwartungen er hat und welche Sprache er verwendet - und wenn ich sage: er, dann meine ich auch: sie – , müssen wir davon ausgehen, dass die angeblich subjektiven Eigenschaften des Beobachters für seine Beobachtungen konstitutiv, also wesentlich sind. Seither wissen wir, dass wir über diese Eigenschaften zu wenig wissen.
Der Titel des Buches „Beobachter unter sich“ vermittelt den Eindruck, dass nur ein Teil der Menschen zu den Beobachtern gehören. Aber sind wir nicht alle Beobachter?
Baecker: Das Gegenteil ist der Fall. Ich meine nicht nur alle Menschen, von denen gottlob immer die Hälfte schläft, wie Niklas Luhmann zu sagen pflegte – sondern überdies ihre Gehirne und Körper, ihr Bewusstsein, die Tiere und Pflanzen, mit denen sie es zu tun haben, Geister, Götter und Teufel und, wer weiß, auch Geschichten, Institutionen, Organisationen, Sprachen, Religionen, Milieus, Netzwerke und Schwärme und sicherlich auch bald künstlich intelligente Maschinen und evolutionäre Algorithmen. Nur der Humanismus und die Aufklärung haben die unglaubliche Selbstüberschätzung in die Welt gesetzt, dass es nur die Menschen sind, die die Welt beobachten. Mein Versuch ist erst einmal nur, diese Selbstüberschätzung zu korrigieren und eine allgemeine Theorie der Beobachtung zu schreiben. Die Formel der „Beobachter unter sich“ soll zum Ausdruck bringen, dass wir es allerorten mit Beobachtern und nur mit Beobachtern zu tun haben, aber größtenteils nicht wissen, wer das im Einzelnen ist.
Sie meinten, dass dieses Buch schon lange überfällig war. Wird es jetzt der Kulturtheorie einen neuen Stempel aufdrücken?
Baecker: Das Buch war für mich überfällig. Ich glaube nicht, dass es auch anderen fehlte. Es gibt schon lange eine ganze Reihe sehr ehrgeiziger Kulturtheorien, die eigenartigerweise fast immer im Sande verlaufen. Vico, Rousseau und Freud sind hier die großen Ausnahmen. Aber kennen wir sie wegen ihrer Kulturtheorien oder nicht eher aus anderen Gründen? Ich habe außerdem die Philosophie des deutschen Idealismus vor allem bei Kant, Fichte und Hegel für meine Zwecke wieder ausgegraben und musste auch hier feststellen, dass ausgerechnet die in meinen Augen radikalen Fragestellungen dieser Philosophie nur selten rezipiert werden. Wer kennt die Idee des „leeren Ichs“ in dieser Philosophie, die zugleich so außerordentlich christlich ist? Wer rechnet damit, dass die Idee des Absoluten eher etwas mit unendlicher Rekursion zu tun hat und nicht etwa mit einem erreichbaren Stillstand in irgendeiner höchsten Idee, sei es der Staat, die Schönheit oder die Menschheit? Und wer nimmt die Herausforderung ernst, die diese Philosophie für ein Denken der Negativität bedeutet, das jedoch, und das wird nicht jedem gefallen, in das Zentrum der Kulturtheorie führt? Immerhin ist der kultivierte Mensch jener, der zu fast allen Phänomenen der Gesellschaft, der sogenannten Zivilisation, „Nein“ sagt.
Wenn wir praktisch alle als „leeres Ich“ zur Welt kommen und dieses Ich, unsere Persönlichkeit, erst durch Beobachtungen füllen, um so zu dem zu werden, der wir heute sind, dann spielen Vererbung, Erziehung, Erfahrungen für die Prägung der Persönlichkeit keine Rolle mehr. Liegt hierin ein Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen?
Baecker: Sie haben vollkommen Recht. Aber wenn Sie sich überlegen, dass das soziale Umfeld, die eigenen Gene, die Erziehung und die persönlichen Erfahrungen allesamt zu den Beobachtern gehören, die Sie beobachten – und zum Teil auch nicht beobachten –, wenn Sie sich fragen, wer oder was Sie sind, dann werden Sie schnell sehen, worauf ich hinaus will. Talcott Parsons hat daraus schon vor einiger Zeit eine Theorie der „Human Condition“ gewonnen, in der der Organismus, die Persönlichkeit, das soziale Umfeld und die kulturellen Werte eine gleich wichtige Rolle spielen, wenn auch nur eine einzige Handlung zustande kommen soll. Und Gary S. Becker hat in den 1960er und 1970er Jahren ein präzises ökonomisches Modell vorgelegt, in dem jede einzelne Entscheidung nicht nur mit wirtschaftlichen Kosten und Nutzen, sondern auch mit den eigenen Gewohnheiten, von denen man sich so schwer trennen kann, dem Humankapital, mit den Leuten, mit denen man gerne zu tun hat und es sich nicht verderben will, dem Interaktionskapital, und mit der Zeit, die man hierfür und nicht für etwas anderes aufwenden möchte, Zeitkapital, im wahrsten Sinne des Wortes rechnet. Das heißt aber in meinen Augen, dass man sich von dem beobachten lässt, was man selber beobachtet, um herauszufinden, was sich als sinnvoll erweisen kann. Und es heißt natürlich auch, dass man mit Rationalitätserwartungen eher vorsichtig sein sollte. Was rational ist, ändert sich mit der Perspektive.
Zum Beobachten braucht man salopp gesagt alle fünf Sinne. Gerade in der heutigen Zeit verlagern aber immer mehr Menschen ihre sozialen Kontakte ins Internet, wodurch die bewusste Wahrnehmung anderer stark eingeschränkt wird. Sehen Sie hierin eine Gefahr?
Baecker: Nein, ich verwende einen allgemeinen Beobachtungsbegriff, der nicht auf Hören oder Sehen, Tasten, Schmecken und Riechen eingeschränkt ist, sondern auf jedes Treffen einer Unterscheidung, gleichgültig in welchem Medium, zutrifft. Beobachten findet in der Wahrnehmung, aber auch in der Kommunikation, auch im Leben und möglicherweise demnächst auch im Rechnen der Maschine statt. Sorgen würde ich mir nur machen, wenn ich Sie vor Ihrem Computer sitzen sähe, ohne dass Sie noch in der Lage wären, eine Unterscheidung zu treffen.
Bild: Bertram Rusch