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Prof. Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Der 1. Mai ist in vielen Staaten, auch in Deutschland, ein gesetzlicher Feiertag. Denn wir feiern den Tag der Arbeit. Warum überhaupt und was bedeutet uns das heute?
Prof. Dr. Dirk Baecker: Wir feiern an diesem Tag jene Arbeit, die unter Anleitung durch das Kapital, das schließlich selbst ein Ergebnis von Arbeit ist, soviel Mehrwert heckt, dass sich aus ihr ein Wohlfahrtsstaat finanzieren lässt, der als Sicherheitsnetz für alle jene Arbeitskraft dient, für die das Kapital keine Verwendung hat. Die Menschen wiederum nutzen diesen Tag für all das, was ihnen die Arbeit verweigert, an erster Stelle Freizeit — und zwar jene Freizeit, die sie nur haben, weil und solange sie auch Arbeit haben. Wie könnte man diesen Tag besser nutzen?
Innerhalb von wenigen Jahren stiegen die Kosten für die Polizeieinsätze ab 2008 um mehrere Millionen in an. Wie haben sich die Demonstrationen in den letzten Jahrzehnten verändert? Warum eskaliert die Gewalt gerade in den letzten Jahren wieder so stark?
Baecker: Der 1. Mai ist nach wie vor der größte Feiertag der Gewerkschaften, die an diesem Tag vor allem sich selber feiern — und von anderen dafür gefeiert werden, dass sie nach wie vor Anlass haben, sich selber zu feiern. Verändert hat sich, dass der 1. Mai als Tag der Erinnerung an alte Arbeitskämpfe wieder zum Kampftag für alle jene geworden ist, die sich einem „System“ gegenüberstehen sehen, das ihnen keine Chance lässt — außer zur Arbeit. Den ersten Stein werfen dann alle diejenigen, die erwarten, an diesem Tag andere auf der Straße zu treffen, die ebenfalls Steine werfen wollen. Ein klassischer Netzwerkeffekt.
Ob in Hamburg oder in Frankfurt kam es auch unter dem Jahr zu gewalttätigen Demonstrationen. Verliert der 1. Mai durch diese Tendenzen weiter Bedeutung?
Baecker: Es gibt keine gesellschaftlichen Symbole und Rituale, die nicht ihrerseits zum Gegenstand versuchter Aneignung und des Erwerbs von Deutungsmacht gemacht werden können. Der 1. Mai hat nur solange Bedeutung, wie man über ihn und um ihn streitet. Man kann ihn nicht einfrieren und zum Gegenstand der Selbstfeier der Gewerkschaften machen, solange die Gewerkschaften ihrerseits in ihrer Gestaltungskraft - einschließlich ihres Widerstandswillens und ihrer produktiven Beiträge zum sozialen Frieden - umstritten sind.
Lässt sich festmachen, welche Rolle die Medien rund um den 1. Mai spielen?
Baecker: Wie immer eine Rolle aktiver Passivität. Ohne die Aufmerksamkeit und daraus resultierenden Berichte der Massenmedien hätten die beschriebenen Netzwerkeffekte es schwerer. Ohne die Aufmerksamkeit und die daraus resultierenden Berichte der Massenmedien hätten es allerdings auch gegenteilige Effekte schwer.
Welche politischen Demonstrationsrituale werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen? Zählen Demonstrationen in Zeiten des Internets noch dazu?
Baecker: Unbedingt. Geändert haben sich nur die Medien der Mobilisierung. Mit diesen Medien (the medium is the message) ändern sich allerdings auch die Parolen, die jetzt nicht mehr der kritischen Reflexion im Medium des Buchdrucks, sondern der raschen Generierung von Aufmerksamkeit im Medium der elektronischen Medien genügen müssen. Die Politik ist robust genug, um sich weder von kritischer Reflexion noch von aufflackernder und wieder verschwindender Aufmerksamkeit allzu sehr beeindrucken zu lassen. Wenn sie sich ändert, dann aus Gründen, für die der Medienwechsel vom Buchdruck zu den elektronischen Medien nur Auslöser und Symptom zugleich ist.
Die letzten großen Zusammenstöße bei einer Demonstration gab es gerade in Frankfurt zur EZB-Eröffnung. Welche Rolle spielt die Polizei bei solchen Eskalationen?
Baecker: Die Rolle der Polizei ist ambivalent und muss es auch sein. Sie symbolisiert den Stein des Anstoßes, die Macht, und ist zugleich die Macht, die die Dinge einigermaßen im Zaume hält. Wir haben in unserer Gesellschaft nicht mehr viele Orte, an denen die immanente Gewalt der Verhältnisse (resultierend aus der zur Menge der Möglichkeiten in keinem Verhältnis stehenden Menge der Möglichkeiten) temporär zum Ausdruck kommen kann. Zusammenstöße mit der Polizei gehören dazu, so sehr man sie wegen der beteiligten Menschen bedauern muss. Die Zusammenstöße ändern nichts, aber sie halten uns wach.
Warum richtet sich der Zorn bei heutigen Demonstrationen scheinbar immer besonders stark gegen den „eigenen“ Staat und seine Beamten?
Baecker: Der eigene Staat ist derjenige, von dem man die Verbesserung jener Verhältnisse erwartet, deren beklagenswerten Zustand man dem eigenen Staat verdankt. Der Zorn der Demonstranten richtet sich also gegen sie selber. Wer demonstriert, muss vorher schon versagt haben — nicht individuell natürlich, aber doch hochgerechnet auf die Bevölkerung, die jenen Staat hat, den sie verdient.
Wofür würden Sie eigentlich im Jahr 2015 auf die Straße gehen?
Baecker: Im strengen Sinne meiner Antwort auf die vorherige Frage? Für eine gute Universität!
Titelbild: Philippe Leroyer / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Anthony Quintano / flickr.com (CC BY 2.0)
Dennis Jarvis / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
myri_bonnie / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann