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Prof. Dr. Anja Mihr von der Universität Utrecht ist Associate Professor am Netherlands Institute of Human Rights (SIM), Faculty of Law Governance and Economics. Von 2002 bis 2006 war sie im Vorstand der Nichtregierungsorganisation Amnesty International Deutschland, davon zwei Jahre als Vorsitzende. Den Vortrag „Menschenrechte - unschlagbar in der Theorie, aber wie sieht die Praxis aus?“ hielt sie auf Einladung der ZU-Hochschulgruppe Amnesty International an der Zeppelin Universität am 30. April 2015.
Eine Geschichte hat sie inspiriert. Eine Lehrerin erzählte ihr während ihrer Schulzeit von einem Gewerkschaftler in Kenia, der in ein Gefängnis weggesperrt wurde. „Ich fand das damals so unerträglich, dass jemand für Gewerkschaftsarbeit ins Gefängnis kommt“, erinnert sie sich. „Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aktivisten haben alle eins gemeinsam: Sie haben entweder passiv oder aktiv eine Menschenrechtsverletzung erlebt.“ Damals war sie sechzehn Jahre alt und hatte nach eigener Aussage keine Vorstellung von der Welt. Heute ist Anja Mihr als Professorin für Menschenrechte in der Menschenrechtsbildung aktiv. Ihre persönlich größte Herausforderung, wie sie selbst sagt. Weil man versucht Menschen beispielsweise durch Vorträge zu erreichen und für Menschenrechte zu sensibilisieren. Das funktioniere nicht immer. Aber über jede erreichte Person freue sie sich umso mehr.
Internationale Zusammenarbeit und die Berücksichtigung globaler Themen - das sind nach Mihr die aktuellen Herausforderungen bei der Implementierung von Menschenrechten. Das Thema kann kein Staat alleine meistern. Und es ist abhängig von anderen Themen wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum und dem Cyberspace, dem sogenannten Leben im Internet. Mihr kritisiert, dass „wir immer so EU-kritisch“ sind. Dabei sei gerade die Europäische Union der größte Förderer von Menschenrechts-Programmen weltweit.
Die aktuellen Themen der Menschenrechte haben sich innerhalb der letzten dreißig Jahre verändert, beobachtet Mihr. „Das muss aber nicht negativ sein“, ergänzt sie. Einen fundamentalen Wendepunkt in der internationalen Menschenrechtsdiskussion habe es um das Jahr 2005 gegeben, als es Reformen der großen EU-Organe gegeben habe, in dessen Zuge Menschenrechte seitens der EU neu priorisiert wurden. Und das Internet, in dem es rund zweieinhalb Milliarden Einwohner gibt, zwinge Staaten heute zur internationalen Zusammenarbeit. „Zweieinhalb Milliarden, das ist zwei Mal Chinas Bevölkerung - ohne Rechtsgrundlage“, veranschaulicht Mihr. „Das Cyberspace ist ein virtuelles Territorium, das weder eine Religion noch eine Verfassung oder ein Gericht hat. Und da bewegen wir uns achtzig Prozent des Tages.“
Im World Wide Web herrsche eine Dynamik, die ein Staat alleine nicht kontrollieren oder gar steuern kann. Es sei das am schnellsten wachsende Regime. Dabei seien die besten Cyberhacker die Söldner der heutigen Zeit. Das Erschreckende, findet Mihr: Der ideale Hacker ist zwischen sechszehn und achtzehn Jahre alt. Und das seien „die größten Menschenrechtsverbrecher der aktuellen Zeit“. Das gesamte Leben werde heutzutage im Internet organisiert - seien es Bankgeschäfte oder die Gesundheitsvorsorge. Deshalb sei das Missbrauchspotenzial auch so groß. Selbst Terrororganisationen wie der IS nutzen die Plattform zur Propaganda. Das Interessante am IS sei, dass er sich selbst Staat nenne, ohne ein Territorium zu besitzen. Er wolle einen ideellen Staat gründen, über Grenzen hinweg. Das Internet bietet sich hier als Propaganda-Plattform besonders an, da es grenzen- und regellos ist.
Ein weiterer Schwerpunkt von Mihrs Vortrags lag in der Frage, wie die Zukunft des Regierens von Menschenmassen nach Menschenrechtstandard aussehen könne. Derzeit leben etwa acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Bei zehn Milliarden wird die Anzahl stagnieren. Das klassische Menschenrechts-Regime sei staatenzentriert, erklärt Mihr. Und Staaten bleiben zwar immer noch Hauptakteure bei der Normsetzung, geben aber immer mehr Einfluss und Macht auf internationale Ebene ab. Dies sei sowohl in der EU als auch in anderen Vereinigungen wie der Afrikanischen Union der Fall. Dabei haben wir es, so Mihr, „mit einer Lichtgeschwindigkeit in der Menschenrechts-Entwicklung zu tun.“ Der heilige Gral für alle internationalen Völkerrechtler liege dabei in Den Haag. Wieso aber gibt man bewusst Macht und Einfluss an eine höhere Instanz ab? „Man verspricht sich eine bessere Problemlösung. Der Staat gibt aus demselben Grund auch Macht und Einfluss an die lokale Ebene ab.“ Nichtregierungsorganisationen bilden dabei eine immer wichtigere Rolle,was ihre Anzahl zeige. Sie wachse immer weiter.
Mihr ist oft als Gastrednerin in vielen, auch diktatorischen Staaten unterwegs. Vor allem in China konnte sie beobachten, wie der Staat Nichtregierungsorganisationen bei ihrer Gründung unterstützt. Die Vorstellungen von Nichtregierungsorganisationen haben sich seit den 1970er Jahren verändert. Früher sei man zu Amnesty gegangen, weil man gegen den Staat wettern wollte. Heute werde man vom Staat „umarmt“, denn Nichtregierungsorganisationen werden als „billige Lösungsmaschinerie“ angesehen.
„Es sind vor allem die autoritären Regimes, die dann Themen wie Menschenrechte herholen, weil sie ihren Einfluss auf die Thematik behalten möchten.“ Trotz allem: Statistisch gesehen leben wir in der friedlichsten Periode, die es je auf diesen Planeten gab. Noch nie gab es so viel Demokratie, so wenig Kriege und Bürgerkriege, erklärt Mihr. Und fügt hinzu: „Wir leben auf einen Kuschelplaneten.“ Das meist übersetzte Buch sei heutzutage nicht mehr die Bibel, sondern die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die es in 450 Sprachen zu lesen gibt.
Auch die Kritik, dass Menschenrechte ein westliches Konstrukt sein, das als Konzept nicht global „übergestülpt“ werden könne, thematisierte Mihr im Verlauf ihres Vortrags. „Zu sagen, es ist die Tradition eines Landes, Menschen zu foltern, oder zu sagen, es ist Tradition, die Meinungsfreiheit einzuschränken – das ist menschenverachtend. Wenn man eine Diktatur ist, soll man dazu stehen“, fasst sie zusammen. Die früher oft genannte Kritik sei heute überholt, weshalb man sie immer weniger höre. Das Dilemma von heute sei, dass heute kein Machthaber mehr sagt, er sei Diktator. Heute nennen sich Diktatoren illiberale Demokraten. Und für sie sei es schick, Menschenrechtsverträge zu unterschreiben.
Zum Schluss des Vortrags erzählte Mihr eine Anekdote aus ihrer Zeit als Gastprofessorin in China. In ihrem Menschenrechtskurs saß ein Politikersohn, der am schlechtesten im Kurs Englisch redete. Mihr fragte ihn, warum er ihren Kurs besuche. Er schien sehr interessiert und war sehr aufmerksam. Darauf gab er ihr die Antwort: „Ich werde wahrscheinlich einmal Außenminister des Landes. Da muss man wissen, wie der Feind denkt.“
Titelbild: Hani Amir / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Farnaz Nasiriamini / Zeppelin Universität
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann