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1968 in Mainz geboren, studierte Muno Politik, Ethnologie und öffentliches Recht in Mainz und Venezuela. Danach hat die Region ihn nicht mehr los gelassen – es folgten Forschungsaufenthalte in Venezuela, Argentinien, Uruguay und auch Thailand. Er forscht vor allem zu Entwicklung und Unterentwicklung, warum einige Länder dieser Welt reich sind, andere arm, einige Länder gut funktionierende Demokratien haben, andere große politische Probleme, was Entwicklung fördert oder behindert. Nach seiner Promotion 2003 lehrte er in Koblenz, Würzburg und Erfurt. Seit Herbst 2014 ist er Vertretungsprofessor für Internationale Beziehungen an der Zeppelin Universität.
Was wird der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff konkret vorgeworfen?
Prof. Dr. Wolfgang Muno: Dilma Rousseff werden konkret Manipulationen des Haushalts vorgeworfen. Es geht um Buchungstricks, um den Haushalt zu schönen. Wenn man diesen Maßstab bei uns anlegt, hätte auch Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Schäuble Probleme, denn solche Buchungstricks sind auch in Deutschland gang und gäbe, um die „schwarze Null“ zu erreichen.
Die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens setzt aber justiziables, persönliches Fehlverhalten voraus. Es ist äußerst fraglich, ob das im Fall Rousseff vorliegt. Die immer wieder erwähnten Korruptionsvorwürfe greifen überhaupt nicht – denn trotz monatelanger Untersuchungen hat die Staatsanwaltschaft weder Rousseff noch ihrem Amtsvorgänger Lula da Silva persönliche Verfehlungen nachweisen können. Stattdessen sind die meisten Abgeordneten, die dem Amtsenthebungsverfahren zugestimmt haben, selbst und persönlich in Korruptionsanklagen verwickelt (und mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich korrupt), so etwa der Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der das Verfahren initiierte. Cunha hat nachweislich Millionen auf Schweizer Bankkonten geparkt, und dieses Geld steht offensichtlich in engem Zusammenhang mit korrupten Handlungen.
Übrigens: Bereits 1992 wurde der damalige Präsident Color do Mello wegen Korruption per Amtsenthebungsverfahren abgesetzt! Eine andere Geschichte ist das aktuelle Verfahren gegen Rousseff, denn hierbei handelt es sich schlicht um ein politisches Manöver, um eine unliebsame Regierung loszuwerden.
Wie sehen nun die nächsten Schritte im Amtsenthebungsverfahren aus?
Muno: Nachdem das Abgeordnetenhaus zugestimmt hat, muss nun der Senat ebenfalls zustimmen – erst dann beginnt das offizielle Amtsenthebungsverfahren unter Vorsitz eines obersten Richters. Solange ist Dilma Rousseff suspendiert, und der Vizepräsident Michel Temer übernimmt die Präsidentschaft. Temer ist Politiker der „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB), einer liberal-konservativen Partei, die mit Rousseffs „Partido dos Trabalhadores“ (PT) eine Koalition eingegangen war, nun aber – angesichts der schweren Wirtschaftskrise – versucht, sich abzusetzen.
Was denken Sie: Wie wirkt sich ein erfolgreicher Verlauf des Verfahrens auf die politische Situation in Brasilien aus?
Muno: Das Verfahren spaltet Brasilien. Die Gegner der PT nutzen die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die Wirtschaftskrise, um eine mit klarer Mehrheit gewählte Regierung aus dem Weg zu räumen. Die PT, die als linke Partei die Armen Brasiliens vertritt und mit Sozialprogrammen und staatlichen Mindestlöhnen viel gegen die Armut und Ungleichheit getan hat, regiert seit nunmehr 14 Jahren. Die (mehrheitlich weiße und reiche) Oberschicht richtete sich immer gegen die PT, und deren Gegner hegten bei der vergangenen Wahl die Hoffnung, endlich die PT loszuwerden. Als dies nicht gelang und kurz nach Rousseffs Wiederwahl die Wirtschaftskrise begann, haben sich die politischen Auseinandersetzungen verschärft. Die Anhänger der PT und Rousseff sprechen mittlerweile von einem „Putsch“, um die Erinnerung an die langjährige Militärdiktatur hervorzurufen.
Diesbezüglich muss noch ein weiteres Problem angesprochen werden. Es existiert ein sehr hoher Konzentrationsgrad derjenigen Medien, die sich in den Händen der PT-kritischen Ober- und Mittelschicht befindet – ähnliches zeigt sich auch bei den Institutionen des Rechtsstaats, der damit keineswegs unparteiisch ist: So ist der in den Korruptionsvorwürfen ermittelnde Richter Serhio Moro ein bekennender PT-Gegner – sein Vorgehen wird von gemäßigten Richtern in die Nähe des Amtsmissbrauchs gesetzt. So ließ er etwa den letzten Präsidenten Lula polizeilich zu Vernehmungen vorführen, obwohl dieser in vollem Umfang mit der Justiz kooperierte und bereits mehrmals freiwillig aussagte. Dabei hatte Moro zuvor die Presse informiert und so dafür gesorgt, dass er gut und Lula wie ein Verbrecher dasteht. Für die PT-Gegner und die PT-kritische Presse ist Moro ein Volksheld, andererseits ist Lula aber immer noch beliebt, besonders bei den Armen. Seriöse Umfragen sehen Lula nach wie vor als beliebtesten Präsidenten, der bei der nächsten Wahl gute Chancen hat, erneut in dieses Amt gewählt zu werden. Das würde dazu führen, dass sich die Situation wohl weiter polarisieren wird.
Das lateinamerikanische Land steckt nicht nur in einer politischen, sondern auch in einer wirtschaftlichen Krise: Was sind die Gründe dafür?
Muno: Brasilien steckt – wie viele andere Länder der Region (etwa Venezuela und Argentinien) – in einer schweren Wirtschaftskrise. Ursache sind fallende Rohstoffpreise und die weiterhin bestehende Abhängigkeit mehrerer lateinamerikanischer Länder vom Verkauf ihrer Bodenschätze und Agrarprodukte: Brasilien von Eisenerz und Soja, Argentinien von Rindfleisch und Soja, Venezuela von Öl, Bolivien von Gas, Silber und Lithium, Chile von Kupfer. Sinkende Preise an den Rohstoffmärkten wiederum – vor allem hervorgerufen aufgrund der nachlassenden Nachfrage insbesondere in China – machen jetzt die Fehler der Vergangenheit offensichtlich: nämlich das Versäumnis, diversifizierte wirtschaftliche Strukturen aufzubauen und in Produktionsketten jenseits der Rohstoffexporte zu investieren. Dies ist aber nicht allein das Versäumnis der linken Regierungen, diese Exportabhängigkeit existiert schon seit kolonialer Zeit.
Lange Jahre hat nun Brasilien (wie ganz Südamerika) vom Boom in China profitiert und sehr viel Geld verdient. Armut und Ungleichheit wurden durch massive Sozialausgaben bekämpft, die Armut zum Beispiel wurde in Lateinamerika halbiert, wodurch man die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen erreichte. Die Regierung in Brasilien setzte sich anschließend das Ziel, die absolute Armut ganz auszumerzen. Dabei gab und gibt es aber ein großes Problem: Die sozialen Verbesserungen wurden mit den Einnahmen aus dem Rohstoffboom der letzten Jahre finanziert. Die Fiesta ist aber vorbei, stattdessen herrscht Wirtschaftsflaute. Es ist deshalb zu befürchten, dass die sozialen Verbesserungen nicht nachhaltig sind.
Wie gefährlich ist diese Mischung aus Korruption, Wirtschaftskrise und zunehmenden Protesten aus der wachsenden Mittelschicht?
Muno: Wir sehen eine Destabilisierung von ohnehin prekären Institutionen. Die Demokratie in Brasilien, die nach mehr als 20 Jahren Militärdiktatur seit der Demokratisierung 1985 gute Fortschritte gemacht hat, wird durch die gegenwärtige Krise geschwächt. Interessant ist dabei der Aufstand der Mittelschicht, die sich mit der Oberschicht gegen eine Regierung verbündet, die Politik vor allem für die Armen gemacht hat – die Mittelschicht fühlt sich entsprechend vernachlässigt und protestiert.
Im Kern hat die Demokratisierung dazu geführt, dass freie Wahlen die Regierung bestimmen. In Lateinamerika, wo im Schnitt die Hälfte der Bevölkerung als arm galt, hat dies zu einem Linksruck, zur flächendeckenden Übernahme der Präsidialämter durch linke Kandidaten seit Ende der 1990er-Jahre geführt. Nun wählen die Lateinamerikaner Regierungen ab, die aus ihrer Sicht versagt haben, etwa in Venezuela und Argentinien. Die beiden Länder stecken in einer veritablen Wirtschaftskrise mit hohen Inflationsraten – in Venezuela gibt es zudem enorme Versorgungsschwierigkeiten, nicht einmal Toilettenpapier ist problemlos zu kaufen. In Brasilien hingegen kam es nicht dazu, dass die Regierung abgewählt wurde, deshalb das Amtsenthebungsverfahren. Hinzu kommt, dass auch die linken Regierungen es nicht geschafft haben, die Korruption zu bekämpfen. Trotz großer Versprechungen zeigt sich in Brasilien, aber auch in Venezuela, Argentinien oder etwa Chile: statt saubere Politik zu betreiben sind auch sie im Korruptionssumpf versackt.
Was bedeutet dies für die im Sommer stattfindenden Olympischen Spiele in Rio de Janeiro?
Muno: Für die Olympischen Spiele dürfte die zunehmende institutionelle Destabilisierung kaum direkte Auswirkungen haben. Die Vorbereitungen sind so weit fortgeschritten, dass hier nicht mehr viel passieren wird. Es wäre aber durchaus möglich, dass die Olympischen Spiele – ähnlich wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft vor zwei Jahren – als Plattform für Proteste genutzt werden, von beiden Seiten. Da die brasilianische Polizei nicht sehr gut ausgebildet und nicht sehr zimperlich gegen Demonstranten vorgeht, könnte das wieder zu Eskalationen, Ausschreitungen und sehr unschönen Bildern führen.
Was müsste geschehen, damit sich Brasilien wieder zu einem wirtschaftsstarken und zukunftsfähigen Land entwickelt?
Muno: Kernproblem Brasiliens (wie ganz Lateinamerikas) ist ein schwach ausgeprägter Staat. Aufgebläht zwar mit vielen Staatsbediensteten, aber schwach und ineffektiv. Statt einer funktionierenden Bürokratie und einem Rechtsstaat dominieren Klientelismus und Korruption. Die politischen Eliten sehen den Staat nur als Beute, durch die es sich zu bereichern gilt – eine Gemeinwohlorientierung fehlt weitestgehend. Gewaltenteilung funktioniert ebenso wenig, die Presse und die Justiz sind parteiisch, Präsidenten regieren mit Dekreten an den Parlamenten vorbei und betrauen ihre Freunde und Verwandte mit wichtigen Posten, weil es kein institutionelles, sondern nur ein personalisiertes Vertrauen gibt. Die Parteien sind Vehikel für die persönliche Macht ihrer Anführer und keine programmatischen Plattformen. Diesbezüglich war die PT in Brasilien eine Ausnahme, die wenigstens versucht hat, ein politisches Programm zu etablieren – aber auch sie hat enttäuscht und sich in den Fallstricken eines durch und durch korrupten Parlaments verfangen.
Diese Problematik zieht sich seit der Kolonialzeit wie ein roter Faden durch die lateinamerikanische Geschichte. Aber, wie gesagt, auch die linke Alternative hat versagt. Die PT hat sich an die korrupten Praktiken angepasst, und in Venezuela ist Hugo Chavez zwar explizit mit einer Anti-Korruptions-Plattform gewählt worden, aber schnell hat sich herausgestellt, dass die Chavisten genauso korrupt sind wie die alte politische Elite, die das Land seit Generationen trotz des immensen Ölreichtums zugrunde regiert hat.
Nötig wäre ein kompletter Neuaufbau eines intakten Staatswesens. Wie das gelingen soll, ist allerdings fraglich. Doch es gibt auch positive Beispiele in der Region. In Uruguay regiert der dritte linke Präsident in Folge, es gibt kaum Korruption, einen funktionierenden Rechtsstaat, soziale Verbesserungen, Investitionen in Bildung. Uruguay hat auch eines der besten Internetnetze Lateinamerikas, ausgebaut übrigens vom staatlichen Telekommunikationskonzern ANTEL. Die Regierung hat an über 300.000 Kinder in staatlichen Schulen kostenlos Notebooks verteilt, so dass alle Schulen Internetzugang haben, was wiederum die Weltbank lobte. Warum funktioniert Uruguay? Kurz gesagt: Die politische Elite hält sich an demokratische Spielregeln und denkt an das Gemeinwohl!
Titelbild:
| Artyominc / Template: Artyom Sharbatyan (CC BY-SA 3.0)
Bilder im Text:
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| Dilma Rousseff / Flickr: Brasília-DF (CC BY-SA 2.0)
| Erica Ramalho / Portal da Copa Março de 2013 (CC BY 3.0 br)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm