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Adelheid Wölfl wurde 1972 in Graz geboren und studierte Soziale Arbeit und Philosophie in Graz und Passau. Nach einem Journalismus-Studium in Wien, etlichen Stationen im Arbeitsleben und einem Master in Comparative European Social Studies in London, Maastricht und Barcelona arbeitete Wölfl zunächst freiberuflich und seit 2004 als Redakteurin bei der österreichischen Tageszeitung Der Standard – mit Schwerpunkt auf der Balkanregion.
Merken Sie eine Politisierung im Land, die gewöhnliche Sozialstrukturen überspringt – oder sind es doch eher politische Extreme oder Studierende, die Meinung formen?
Adelheid Wölfl: Die Leute, die in Skopje und anderen Städten auf die Straße gehen, gehören zu einer sehr dünnen Schicht von Gebildeten, wirtschaftlich Unabhängigen und politisch Emanzipierten. Die allermeisten Mazedonier sind von den Parteien abhängig, weil sie ihnen Jobs und soziale Sicherheit garantieren. Deshalb würden sie sich nicht trauen, auf die Straße zu gehen. Die Situation ist in ganz Südosteuropa ähnlich. Es braucht zumindest ein Familienmitglied, das einen Job bei staatlichen Organisationen oder Unternehmen hat, um das Überleben der Familie zu garantieren. Dieser Klientelismus führt dazu, dass die Menschen nicht wählen, weil sie ideologisch oder aus anderen Gründen mit einer Partei einverstanden sind, sondern weil sie überleben wollen. Es ist nicht zu erwarten, dass sich das ändert und es ist auch nicht realistisch, dass es einen Machtwechsel gibt. Extrem sind die Demonstranten überhaupt nicht. Wenn es nur annähernd solchen Amtsmissbrauch und eine solche Korruption in Deutschland geben würde, dann wären schon Millionen auf den Straßen. In Südosteuropa traut sich das aber nur die Opposition oder eben diese sehr dünne Schicht von Gebildeten, wirtschaftlich Unabhängigen und politisch Emanzipierten.
Wie schätzen Sie den europäischen Gedanken in Mazedonien ein (ungeachtet der Differenzen mit Griechenland und Bulgarien bezüglich Namensgebung oder der albanischen Minderheit)?
Wölfl: In Mazedonien und in der gesamten Region gibt es seit Jahrzehnten eine Mehrheit der Bevölkerung, die für den EU-Beitritt ist. Allerdings sind die Menschen schwer enttäuscht und vertrauen der EU nicht mehr, weil die EU keine Versprechungen einhält. Niemand in der Region glaubt noch, dass diese Staaten aufgenommen werden. Die großen EU-Staaten – insbesondere Deutschland und Frankreich – wollen ja gar nicht, dass diese Länder beitreten. Insofern ist die Skepsis groß. Zudem die prorussischen Kräfte wachsen dadurch natürlich. Die Regierungspartei VMRO-DPMNE sowie andere nationalistische Kräfte in der Region wissen, dass der EU-Beitritt unrealistisch ist und deshalb können sie auch die Politik machen, die sie machen. Sie werden von den autoritären Kräften etwa aus Ungarn und von Russland unterstützt. Aber natürlich wollen die Mazedonier zu Europa gehören und zur EU. Allerdings höre ich immer mehr Menschen sagen: In Europa ist es so und so und hier bei uns ist es so, das heißt sie fühlen sich zunehmend von Europa abgetrennt. Sie haben ganz stark das Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Das ist schon seit vielen Jahren so. Und es stimmt ja auch.
Was erwartet Ihrer Meinung nach Mazedonien von Europa?
Wölfl: Die Erwartungen jener Kräfte, die die Demokratisierung wollen, an die EU bestehen darin, dass diese sich für die Demokratisierung einsetzt. Und das tut die Kommission seit einem Jahr mehr als je zuvor. Allerdings sind die Gegenkräfte so stark, dass der Prozess dauernd hin- und hergeht. Es gibt natürlich auch die anderen Kräfte in Mazedonien, die überhaupt keine Annäherung an die EU wollen und schon gar keine Demokratisierung, weil sie dann nicht mehr ihre Geschäfte machen, sich bereichern und autoritär regieren können.
Titelbild:
| Caspar von Moltke / Zeppelin Universität
Bilder im Text:
| Caspar von Moltke / Zeppelin Universität
Interview (redaktionell unverändert): Martin Fenz
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm