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Robin Alexander wurde 1975 in Essen geboren, erlebte Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet, bevor er Geschichte und Journalismus in Leipzig studierte und 1998 ein Volontariat bei der taz in Berlin absolvierte. Nach Stationen als Reporter ebendort und Gründungsredakteur der deutschen Ausgabe der Vanity Fair trat Alexander 2008 in die Redaktion der WELT und WELT AM SONNTAG ein. Seit 2010 ist er dort für die Berichterstattung über Angela Merkel und das Kanzleramt zuständig, seit 2017 als Chefreporter. 2013 wurde Alexander mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Sein Buch „Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik“ stand 2017 mehrere Wochen auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Er ist regelmäßig Gast in politischen Talkshows. 2017 wurde er vom Medium Magazin zum „Politischen Journalisten des Jahres 2017“ gewählt. 2018 wurde Alexander für seine Rekonstruktion der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung mit dem Medienpreis Politik des Deutschen Bundestages ausgezeichnet. Robin Alexander lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin.
Bitte hört nicht auf uns! Oder: Wie wird heute regiert? Mit diesen Worten auf seinen Folien beginnt WELT-Chefreporter und Bestsleller-Autor Robin Alexander den GlobalTalk beim Club of International Politics e.V. Das Thema des Abends: „Wie wirken sich Meinungsumfragen auf das Handeln von Regierungen aus?“
Robin Alexander erläutert eingangs, dass er selbst noch nicht regiert habe. Die einzige Wahl, die er je gewonnen habe, war die zum Schülersprecher: „Doch um zu wissen, wie man ein Steak brät, muss man nicht seinen eigenen Hintern herhalten.“ Doch wie werden wir regiert? Alexander, als WELT-Chefreporter zuständig für die Berichterstattung über Angela Merkel und das Kanzleramt, beschreibt eingehend, dass die eigentliche Arbeit der Regierung in den jeweiligen von der Öffentlichkeit ausgeschlossenen Ausschüssen stattfindet. Trotzdem sehen sich die deutschen Politiker mit der Kritik konfrontiert, sie würden nichts machen.
Angela Merkel wurde von der „New York Times“ als „Führerin der freien Welt“ bezeichnet. Das setze jedoch voraus, dass jemand, der so wichtig ist, auch sein Regierungsprogramm verwirklicht. Das Leipziger Parteiprogramm versprach eine Senkung der Rentenbeiträge, eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke und deutlich weniger Zuwanderung. Tatsächlich wurde von dem Programm fast nichts umgesetzt, stattdessen wurde der Mindestlohn eingeführt sowie die Wehrpflicht abgeschafft.
Warum hat eine Kanzlerin nicht das getan, was sie einst wollte, sondern genau das Gegenteil? Die Antwort ist simpel: Weil das Volk es so wollte! Alexanders These: Angela Merkel wurde nicht wegen, sondern trotz ihres Programms gewählt, da die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr Gerhard Schröder als Kanzler haben wollte. Taktisch klug arbeitete Merkel auch während ihres Wahlkampfes 2013 gegen ihren Herausforderer Peer Steinbrück. Letzterer hatte die Mietpreisbremse in seinem Wahlprogramm etabliert, was bei den Wählern Anklang fand. Als Merkel dies bemerkte, übernahm auch sie dieses Versprechen und zielte damit auf eine Zielgruppe ab, die für die CDU traditionell schwer zu erreichen ist: Singles in Großstädten. Ihre Botschaft: Es ist egal, wen Sie wählen, die Mietpreisbremse erhalten Sie bei uns beiden. Schlussendlich gewann Angela Merkel den Wahlkampf tatsächlich durch die Nichtwähler.
Wie stark das Handeln von Politikern durch Meinungsumfragen beeinflusst wird, illustriert Alexander anhand eines weiteren Beispiels: Nach dem Atomreaktorunfall in Fukushima wurden umgehend acht Atomkraftwerke stillgelegt und die Zeit der Energiewende eingeläutet. Dieser Politikwechsel war jedoch nicht bedingt durch eine veränderte Überzeugung der Politiker, sondern schlicht durch eine veränderte Stimmungslage in der Bevölkerung. Die Menschen waren bereits vor dem Atomreaktorunfall nicht überzeugt gewesen von der Atomenergie, zweifelten aber gleichzeitig daran, dass sie durch erneuerbare Energien ersetzbar ist.
Derzeit beruhen durch die Regierung veranlasste Meinungsumfragen auf den Selbstaussagen der Bürger, nicht selten sind diese jedoch widersprüchlich: Bei einer Umfrage, ob eine gemeinsame europäische Armee angestrebt werden soll, bejahten dies 58 Prozent der Befragten. Umgekehrt sprachen sich 51 Prozent dagegen aus, die deutschen Verteidigungsausgaben zu erhöhen.
In keiner Zeitperiode hatte Angela Merkel als Kanzlerin so schlechte Umfragewerte wie zum Jahresende 2015, als Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen. Doch wie hatte sie sich zuvor mit dem Thema Zuwanderung auseinandergesetzt? Laut Robin Alexander überhaupt nicht, denn in den ersten Regierungsjahren kamen gerade einmal 30.000 Geflüchtete nach Deutschland.
Somit gab es in den ersten zehn Jahren gar keine Flüchtlingspolitik, weil keine Notwendigkeit bestand. Merkel hatte bis dahin nie ein Flüchtlingsheim besucht. Erst am 15. Juli 2015 nimmt sie Teil am Bürgerdialog in Rostock, wo ein gehbehindertes Mädchen aus dem Libanon sie bittet, in Deutschland bleiben zu können. Der Videoausschnitt, in dem die Kanzlerin das Mädchen etwas unbeholfen streichelt, geht in den Medien viral. „Der Stern“ betitelt Merkel als „Eiskönigin“, was ihrem Image als „Mutter der Nation“ erheblichen Schaden zufügt. In den folgenden Wochen wünschen sich 86 Prozent der deutschen Befragten, dass Merkel ein Flüchtlingsheim besucht. Dem Wunsch kommt sie kurz darauf nach.
Was sollen uns diese Beispiele zeigen? Alexander führt an, dass das Volk emotional sei. Das war schon immer so, mittlerweile agieren die Politiker jedoch auf Grundlage des Meinungs- und Stimmungsbildes in der Bevölkerung. Hätten sich die Politiker schon in den 1990er-Jahren in der Weise wie heute an Meinungsumfragen orientiert, wäre zweifelhaft, ob der Euro jemals eingeführt oder der NATO-Beitritt stattgefunden hätte, da damals eine Mehrheit der Deutschen dagegen war.
Robin Alexanders Appell zum Schluss: „Wenn Sie das nächste Mal einen Politiker sprechen hören, beurteilen Sie ihn nicht danach, ob er etwas gesagt hat, was ihnen gefallen hat, sondern beurteilen Sie ihn danach, ob er sich getraut hat, etwas zu sagen, was Ihnen nicht gefallen hat.“
Titelbild:
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Bild im Text:
| Tarek Stucki / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm