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Tankred Stöbe ist Notarzt aus Berlin und unterbricht seit 15 Jahren immer wieder seine Arbeit, um für die internationale Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen in den Einsatz zu gehen. So war er auch 2015 während der schlimmen Ebola-Epidemie in Westafrika. Bei den Einsätzen, meint er, müsse er sich auf seine ärztlichen Urfähigkeiten besinnen und lerne so auch Fähigkeiten hinzu, die ihm in Deutschland nützen können: "Heute habe ich ein ganz gutes Gefühl, um nach wenigen Sekunden einen Patienten zumindest vom Schweregrad seines Leids einschätzen zu können.“
„Du bist doch aus Somalia? Ich bin der Arzt von dem Schiff vor ein paar Monaten“, sagt Tankred Stöbe, als er seinem ehemaligen Patienten Shafti in einem maltesischen Krankenhaus einen Besuch abstattet. „Dieses Wort ,Somalia‘ hat bei ihm eine extreme Panik ausgelöst, und es hat lange gedauert, bis ich ihn wieder beruhigen konnte“, erzählt der ehemalige Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ beim GlobalTalk des Club of International Politics zum Thema „Tod und Seenotrettung im Mittelmeer – Welche Verantwortung trägt Europa?“
Der am Bodensee aufgewachsene Tankred Stöbe arbeitet seit vielen Jahren für „Ärzte ohne Grenzen“ und lässt seine Zuhörer an diesem Abend an seinen zahlreichen Erfahrungen teilhaben. Was seine Arbeit in der humanitären Hilfe im Vergleich zur Arbeit in der internationalen Politik auszeichnet, stellt er gleich zu Beginn der Veranstaltung klar. Sie sei keine Lösung für einen Konflikt, aber essenziell in Abwesenheit einer Lösung. Denn humanitäre Hilfe sei niemals Konfliktlösung, und dies müsse man als Arzt einfach akzeptieren können. „Wir fragen nicht danach, wer in diesem Krieg Recht hat. Wir fragen, wer Hilfe braucht“, berichtet Stöbe.
Humanitäre Hilfe sei immer schwierig, und ab und zu komme man an seine eigenen Grenzen, denn „es gibt immer noch etwas, was du noch nicht erlebt hast.“ Er selbst ist Arzt, weil es Geschichten gibt, die ihn berühren. Und eine Geschichte davon ist die Geschichte von Ulet. Ulet kam an Bord eines Seenotrettungsschiffes, war sterbenskrank und völlig verwirrt. Daher habe er jede medizinische Hilfe abgelehnt und sei medizinisch ausgedrückt „nicht kooperativ“ gewesen. Innerhalb der ersten 24 Stunden hat sich sein Zustand extrem gebessert, plötzlich war er „adäquat“ und Stöbe dachte, Ulet würde es bis nach Italien schaffen. „Plötzlich sagte er, dass er dringend raus müsste an die frische Luft. Dort angekommen, brach er zusammen – wir konnten nur noch den Tod feststellen“, erzählt Stöbe. „Das war für mich als Arzt schwer zu akzeptieren. Denn dass einer unter meiner ärztlichen Verantwortung stirbt, so etwas darf nicht passieren!“
Seine zahlreichen Einsätze in aller Welt sind mit außergewöhnlichen (auch politischen) Erfahrungen verbunden: „Ich würde nicht sagen, dass ich ein Libyen-Experte bin, aber ich war dreimal vor Ort und ich glaube, dass es kaum einen Menschen in Deutschland gibt, der das von sich behaupten kann.“ Auch auf den aufstrebenden Rechtspopulismus hat Tankred Stöbe eine Antwort: „Es macht einfach Sinn, mit den Menschen vor Ort zu reden. Denn nur dann kommt man zurück und ist klüger. Man weiß dann, was dort wirklich passiert.“
Gerade Europa fordert er auf, Verantwortung zu übernehmen. Das EU-Türkei-Abkommen werde hier als Erfolg gefeiert, aber aus humanitärer Sicht sei es komplett gescheitert. Auch die Dublin-Abkommen seien geschlossen worden, als Europa noch anders funktionierte und nicht vorauszusehen war, dass Asylsuchende ausschließlich in drei europäischen Ländern ankommen würden. Europa müsse heute kollektiv zusammenstehen und beispielsweise mit Ärzten und Beamten denjenigen Staaten aushelfen, die von der Flüchtlingswelle hauptsächlich betroffen sind. Eine neue europäische Strategie sei von Nöten, denn es sei nicht vertretbar, dass Europa sich seiner Verantwortung entziehe. „Dass wir das in Europa nicht hinkriegen und einige Länder einfach ihrem Schicksal überlassen, das finde ich schon peinlich. Humanitäre Werte kommen aus Europa, doch aktuell leugnen wir unsere eigenen Werte“, gibt Stöbe einen Anstoß zum Nachdenken.
Auch zu den Vorwürfen, „Ärzte ohne Grenzen“ würden bei der Seenotrettung mit Schleppern kooperieren, hat er eine klare Meinung: „Das stimmt alles nicht. Das macht mich schon wütend, denn keiner von den Menschen, die das sagen, war je auf so einem Boot, geschweige denn in Libyen.“ Diese Falschnachrichten würden ständig wiederholt und dadurch zwar nicht korrekter, aber sich in manchen Köpfen festsetzen. Und dies sei wirklich bedauernswert.
Für ihn gäbe es nur einen Ausweg: Umdenken. Die Bedingungen in den libyschen Lagern, wo die Menschen festgehalten werden, seien schrecklich. „Wir waren in so einem Lager. Die Frauen dort flehten mich an: ‚Wir brauchen keinen Arzt, uns geht es gut. Bringen Sie uns nur zurück nach Nigeria!’“, erzählt Stöbe. Vor allem fehlende Hygiene würde in den Lagern zu gesundheitlichen Beschwerden führen. Die meisten würden unter Krätze oder unter generellen Körperschmerzen leiden.
An Bord eines Rettungsschiffes angekommen, würden die Geflüchteten aufgrund der extremen Erschöpfung die ersten 24 Stunden nur schlafen. Obwohl sie viel durchgemacht hätten und wüssten, dass Europas „Welcome Policy“ verjährt sei, sind die Schutzsuchenden extrem demütig und höflich. „Nach all diesen Erfahrungen hätte ich wahrscheinlich keine Kraft mehr zu danken“, gibt der Gast des Abends zu und betont noch einmal zum Abschluss: „Eines muss uns bewusst sein: Keiner flieht freiwillig! Und jeder hofft darauf, diese Flucht zu überleben!“
Titelbild:
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Bild im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm