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Gregor Gysi ist Präsident der Partei der Europäischen Linken, im Wahlkreis 84 Berlin-Treptow-Köpenick direkt gewählter Bundestagsabgeordneter und stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Von 2005 bis 2015 war er zudem Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Von Ende 1989 bis 1993 war Gysi letzter Vorsitzender der SED-PDS und ihrer Nachfolgepartei PDS. Gysi wurde 1948 in Berlin geboren, lebt in Berlin-Pankow und ist Mitglied des 1. FC Union Berlin.
Die gegenwärtige Zeit sei von Verunsicherung geprägt, die Klarheit eines Kalten Krieges verschwunden. Diese Unsicherheit führt Gysi maßgeblich auf die herrschende Politik und ihre Protagonisten zurück: „Eine Roulettekugel ist im Vergleich zu Politikern wie Donald Trump eine sicher zu berechnende Größe.“ Doch die Unsicherheit gehe nicht nur von politischen Machtinteressen aus, auch die Digitalisierung hänge viele Menschen der Bevölkerung durch das rasante Tempo der technischen Entwicklung ab. Jedoch: „Diese digitale Herausforderung ist Chance und Risiko zugleich“, konstatiert Gysi. Der Mensch sei seit jeher kreativ und könne sich durch Schaffung und Erfindung neuer Arbeit schnell an Veränderungen anpassen.
Wichtig sei, so Gysi, die gerechte Verteilung von Arbeit. Doch auch hier gebe es Risiken: Der Trend gehe heute weg vom Büro, Homeoffice sei die neue Errungenschaft. Doch dass dies auch eine Vereinzelung des Menschen herbeirufe, werde häufig außer Acht gelassen. „So entsteht durch die Globalisierung mit der Digitalisierung ein Widerspruch, rückt die Welt augenscheinlich doch immer näher zusammen, wohingegen der Einzelne zunehmend isoliert wird. Dadurch wiederum bricht die Gemeinschaft auseinander.“
Gregor Gysi versteht es, noch so komplizierte Sachverhalte in klaren Konturen greifbar zu machen. Das rund 450-köpfige Publikum im Graf-von-Soden-Forum im ZF Campus der ZU lauscht gebannt seinen Ausführungen. Auf unterhaltsame Weise streut Gysi hie und da persönliche Erlebnisse und heitere Anekdoten ein. Doch der Ernst kehrt schnell wieder zurück, wenn Gysi sich die Weltpolitik vorknöpft: „G7, G8, G20: Wir haben momentan keine funktionierende Weltpolitik.“
Auf das dem Abend übergeordnete Thema – den Mauerfall 1989 – kommt Gregor Gysi zunächst anfangs, dann aber erst relativ spät wieder zu sprechen. „Es lag in der Luft und wäre eh passiert, doch der eigentliche Auslöser war ein Irrtum.“ Dass die Grenzöffnung auf einem Missverständnis beruhte, schildert Gysi mit Insider-Wissen: Günter Schabowski verkündete unwissend die Öffnung der Grenzen, die zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht vorgesehen war.
Dass heute überall Mauern errichtet werden – sei es zwischenmenschlich oder tatsächlich physisch als Abgrenzung –, sieht Gysi äußerst kritisch: „Eine Mauer verschafft im besten Falle eine vorübergehende Pause, das Problem verschwindet dadurch allerdings nicht.“ Weiter schildert Gysi, der Kapitalismus habe nach der Grenzöffnung nicht gesiegt, sondern sei lediglich übriggeblieben. Dieser Kapitalismus könne jedoch keinen Frieden sichern, keine soziale Gerechtigkeit garantieren. Heute arte der Kapitalismus mehr und mehr in einen zynischen Egoismus aus, doch „Egoismus ist keine Lösung“, betont Gysi.
In dieser Welt, in der die Globalisierung zu Vereinsamung führen kann, in der die Digitalisierung Menschen abhängt und in der der Egoismus in der Politik weitläufig auf der Tagesordnung steht, nimmt aus seiner Sicht die Religion wieder zunehmend eine wichtige Rolle ein. Gregor Gysi selbst glaubt zwar nicht an Gott, hat jedoch Angst vor einer glaubensfreien Gesellschaft. Denn erst durch die Religion, den Glauben an eine höhere Macht, entstehe eine allgemeinverbindliche Moral. Tradition, Kultur und Zusammenhalt entwickeln sich vor allem und gerade durch Religion, erläutert Gysi.
Bei all den Aspekten, die Gregor Gysi an diesem Abend anspricht, wird eines besonders deutlich: Die Themen, die vor 30 Jahren die Welt bewegten, wie etwa die Verteidigung der Demokratie und die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sind heute aktueller denn je.
Titelbild:
| Samuel Groesch / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Bild im Text:
| Samuel Groesch / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm