ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Franziska Grillmeier studierte Politik, Religionsgeschichte und internationales Recht in Wien und London. Sie forschte und reiste immer wieder unter anderem nach Nordafrika, in den Balkan und die Türkei. Im Rahmen ihrer journalistischen Ausbildung absolvierte sie die Zeitenspiegel Reportageschule. Heute ist sie als freie Journalistin vom Deutschrand bis in den Nahen Osten unterwegs. Grillmeier schreibt am liebsten im Stehen und lebt auf der griechischen Insel Lesbos.
„Migration habe ich immer schon als Thematik verfolgt“, sagt Grillmeier. Seit Sommer 2018 lebt sie auf Lesbos, um das Leben in dem Flüchtlingslager Moria zu dokumentieren und den dort lebenden Menschen eine Stimme zu geben. Und mittlerweile hat das Lager wieder starken Zuwachs bekommen: Ursprünglich auf 2.500 Menschen ausgerichtet, leben inzwischen knapp 20.000 Menschen im Lager und in den Olivenhainen drumherum. Wie gehen die Bewohner der Insel damit um? „Viele der heutigen Bewohner sind 1922 selbst von der Türkei nach Lesbos geflüchtet und können sich dadurch heute mit der Situation der Geflüchteten identifizieren“, so die freie Journalistin.
Schlimmer war der Zustand nur in den Jahren 2015 und 2016, als an manchen Tagen bis zu 10.000 Menschen am Tag auf der Insel strandeten, die allerdings nach einigen Tagen und der Abgabe ihres Fingerabdrucks weiterreisen durften. „Das 2016 in Kraft tretende EU-Türkei-Abkommen war zur Regulation der Flüchtlingsströme bestimmt. Zwar hat es die Anzahl der Geflüchteten tatsächlich verringert, jedoch spürt man jetzt, vier Jahre danach, dass das Abkommen brüchig ist“, bemerkt Grillmeier. Aktuell landeten wieder deutlich mehr Menschen auf Lesbos.
„Jeder, der hier ankommt, kriegt vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine Plane in die Hand gedrückt, mehr nicht. Dann heißt es ,good luck‘ und ab in die Olivenhaine.“ Mit der Plane versuche dann jeder, sich sein Zuhause zu bauen. Erschwerend komme hinzu, dass es außerhalb des eigentlichen Lagers keine Elektrizität, kein fließendes Wasser und keine sanitären Anlagen gibt. Kinder spielen Fußball, der Ball landet ab und zu in einem Bach aus Fäkalien und muss herausgefischt werden. Feuer wird als Licht- und Wärmequelle genutzt. „Auch die Essenausgabe, die zweimal am Tag stattfindet, ist katastrophal“, schildert Grillmeier. „Menschen stehen hier bis zu fünf Stunden an, um eine Mahlzeit zu erhalten. Und das Ambiente, ein metallener Käfig, löst bei den Geflüchteten oft schreckliche Erinnerungen und Traumata aus. Weil immer mehr Menschen Essen benötigen, kommt es häufig zu Rangeleien und Gedränge, regelmäßig sehe ich Kinder mit gebrochenen Armen und Beinen.“
Auch die Kriminalität auf Lesbos hat zugenommen, „es geht jeden Tag ums Überleben“. Es werde sogar um Rollstühle gekämpft. Ein Geflüchteter sagte einmal zu ihr, es vergehe kein Tag, an dem er keine Gewalt sehe. Das Vorurteil aus Europa, das in einem typischen Geflüchtetem einen alleinstehenden Mann sieht, kann Grillmeier nicht bestätigen. Sie habe im vergangenen Jahr erlebt, dass alleinstehende Männer unter den Geflüchteten sind, die Hauptgruppen aber ältere Menschen, Familien und Kinder darstellen. Den Grund dafür sieht sie vor allem in den stärkeren Grenzkontrollen in der Türkei.
„Im Zuge des EU-Türkei-Abkommens sind rund sechs Milliarden Euro in die Türkei geflossen, um die Grenzen dicht zu machen und Strukturen vor Ort aufzubauen, sodass etwa 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge versorgt werden können. Das Abkommen regelt auch, dass Asyl vor Ort beantragt werden muss und Geflüchtete nicht weiterreisen dürfen, bis geklärt ist, ob der jeweilige Antragssteller aufgenommen oder abgeschoben wird. Das hat auch auf Lesbos einen riesigen Stau ausgelöst, denn auch die griechischen Behörden sind maßlos überfordert“, erzählt Grillmeier.
Die freie Journalistin berichtet weiter von einem Gespräch mit dem Ideengeber des Abkommens Gerald Knaus, der zu ihr meinte, dass das Abkommen damals die einzige Alternative gewesen sei, um den weiteren Aufschwung von populistischen Strömungen einzudämmen. Auch räumte er ein, dass das Abkommen von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Grillmeier führt weiter aus: „Nachdem die Türkei das Geld hatte, fühlte sich Europa aus dem Schneider, und kein Mitgliedsstaat hat sich wirklich noch darum gekümmert.“
Was Franziska Grillmeier in Lesbos sehr prägt, das ist der unbändige Überlebenswille der Geflüchteten. Auch wenn das Elend vor Ort unvorstellbar und unmenschlich sei, breche immer mal wieder ein Hoffnungsschimmer durch, etwa wenn ein Vater eine kleine Schule eröffnet, um seine eigenen Kinder zu unterrichten – und sich daraus mehr entwickelt: Inzwischen kümmern sich mehrere selbsternannte Lehrer um rund 1.000 Schüler. Abschließend betont Grillmeier: „Die wenigsten haben im Kopf, nach Europa zu kommen. Sie wollen einfach nur in das nächste Land und in Sicherheit. Sie wollen ein Leben mit Gesundheitsversorgung, Schulbildung für ihre Kinder und im besten Fall eines, bei dem sie sich selbst etwas erwirtschaften können. Hauptsache sie sind nicht abhängig.“
Titelbild:
| Rosa-Maria Rinkl / Eigenes Werk (CC BY-SA 4.0) | Link
Bild im Text:
| Tarek Stucki / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm