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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Wer schon einmal ein Fußballspiel in einem größeren Stadion erlebt hat, kennt die Stimmung, die vor allem von den Tribünen ausgeht, auf denen die echten Fans ihre Mannschaften anfeuern. Hans Ulrich Gumbrecht – Anhänger von Borussia Dortmund und einer der großen Literaturwissenschaftler unserer Zeit – geht dieser Stimmung in besonderer Weise nach. In seinem Essay Crowds verbindet er die Innensicht des Fans mit einschlägigen Theorien des 20. Jahrhunderts. Und während „die Masse“ in Politik und Kultur einen eher zweifelhaften Ruf genießt – da für leicht steuerbar gehalten –, erkennt Gumbrecht in den Fans der Dortmunder „Süd“, einer der weltweit größten Stehplatztribünen, ein Potential zu ihrem Lob. Das Fußballmagazin „11 Freunde“ schreibt über das Buch: „Auf den 160 Seiten seines Essays versucht [der Autor] aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln eine Erklärung für die monumentale und lebensverändernde Kraft des Stadionfußballs zu finden. [Er schlägt] in einem intellektuellen Husarenritt einen Bogen vom mystischen Körper Christi über den Sturm auf die Bastille bis hin zum Konflikt zwischen Ultras und DFL.“
Für Sie ist ein Stadionbesuch wie eine Sucht. Wann hatten Sie Ihren schönsten „Rausch“, Herr Gumbrecht?
Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht: Eigenartigerweise geht es mir da wie bei den Büchern, die ich zu schreiben versuche. Ich wünsche mir immer – mit einiger Leidenschaft –, dass das jüngste Buch das beste ist. So hänge ich auch daran, dass der jeweils letzte Stadionbesuch der berauschendste war. Einige bleiben dann in Erinnerung – und von denen habe ich manche kurz in meinem Buch beschrieben: am 12. Februar 1958 zum Beispiel – mit nicht mal zehn Jahren – habe ich im Dortmunder Stadion „Rote Erde“ Borussia Dortmund ein Viertelfinale des allerersten Europacup-Jahres gegen den AC Milan spielen sehen; 2000 das Eröffnungsspiel für das Olympiastadion in Sydney – ein Rubgyspiel zwischen Australien und Neuseeland, das die neuseeländischen „All Blacks“ (oder „Kiwis“) knapp gewannen und das als eines der größten Matches dieses Sports in die Geschichte eingegangen ist. Und dann einige der Siege des Stanford University American Football Teams gegen unseren Erzrivalen Berkeley – vor fünfzigtausend (in Stanford) oder achtzigtausend Zuschauern (in Berkeley). Da kann ich zu schon zu einem ziemlich unhöflichen – und auch aggressiven – Zeitgenossen werden...
Was macht die Intensität von Stadionereignissen aus?
Gumbrecht: Das ist nicht so leicht zu formulieren – darum genau geht es ja auf den 150 Seiten des kleinen Buches. Man spürt, dass man einer von vielen Körpern ist, die da stehen – aber man redet kaum mit den anderen Zuschauern. Zugleich sind alle auf ein Geschehen konzentriert, das sie mitreißt, ohne dass wir irgendeinen Einfluss auf seinen Ablauf haben. Und diese beiden Komponenten fließen in einer Euphorie – einem sich erhoben fühlen – zusammen, die nicht ganz vom Erfolg der „eigenen“ Mannschaft abhängig ist, aber an Intensität zunimmt, wenn die eigene Mannschaft erfolgreich spielt.
Sie sind glühender Fan von Borussia Dortmund, das Stadion mit seiner Südtribüne für fast fünfundzwanzigtausend Fans ist weltbekannt. Wie würden Sie die Stimmung dort beschreiben?
Gumbrecht: Das habe ich – mit abstrakten begriffen – in der vorigen Antwort zu artikulieren versucht. Vor allem wird während des Spiels wenig gesprochen dort; man singt zusammen ab und an, schreit zusammen auf, stöhnt auch zusammen, aber das ist keine Kommunikation. Und zur Euphorie – das will ich zugeben – gehört sicher auch ein Gefühl in meinem Alter: eine Illusion von körperlicher Stärke, die durchaus in Gewalt umschlagen kann. Das sollte man nicht leugnen – so sehr man versuchen muss, solche Impulse zu kontrollieren.
Funktionieren solche Erlebnisse auch in der Kreisklasse – oder ist das Stadionerlebnis vom Innen und der Fülle abhängig?
Gumbrecht: Es wäre natürlich freundlich und geradezu „demokratisch“ zu sagen „Ja, natürlich, das funktioniert auch in der Kreisklasse.“ Es ist aber nicht so. Wenn ich schätzen sollte – mit unter zehntausend Zuschauern und leeren Rängen im Stadion kann diese Atmosphäre nicht entstehen, eigentlich muss man sich beengt und kompakt fühlen, um eine „Masse“ zu werden, aufgrund der Form, der Architektur des Stadiongebäudes. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ein Kreisklassenspiel nicht seinen eigenen – anderen – Charme haben kann. Mit zehn, elf, zwölf Jahren habe ich jeden zweiten Sonntag die Würzburger Kickers vor zwei- oder dreitausend Zuschauern damals in der bayerischen Amateurliga spielen sehen. Das war sicher nicht vergleichbar mit dem Dortmunder Stadionerlebnis im Februar 1958.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Stadien reserviert sind für kurze Momente des Vollzugs von Ritualen. Was meinen Sie damit?
Gumbrecht: Vor allem und zunächst, dass es ja erstaunlich ist zu sehen, wie die Stadien als potenziell teure Immobilien, die oft in der Nähe der Stadtzentren liegen (wie in Bremen zum Beispiel oder wie das Baseballstadion der San Francisco Giants) nur sehr selten – im Regelfall einmal alle zwei Wochen – benutzt werden. Ich denke, dass dadurch ein Kontrast geschaffen wird, der die Intensität der Spielzeit (neunzig Minuten beim Fußball) als Ritual von Präsenz unterstreicht und steigert.
Ein Stadionereignis ohne Zuschauer kann es nicht geben, kommentieren Sie in Ihrem Buch. Was empfinden Sie, wenn sie aktuell ein Fußballspiel vor leeren Rängen betrachten?
Gumbrecht: Zunächst – zu den Spielen der europäischen „Geisterligen“ bin ich selbstverständlich nicht zugelassen. Sollte es diesen Herbst zu einer Geisterliga im College-Football kommen, dann habe ich vielleicht eine Chance. Aber obwohl die Clubs und Fernsehanstalten ja gar nicht ohne Geschick versuchen, den Eindruck einer Stadionatmosphäre herzustellen, bin ich erstaunt, wie sehr mir das Wissen, dass das Stadion leer ist, in die Quere kommt. Dieses Wissen eben ist wohl auch der Grund, warum sich die Fernsehzuschauer nicht – wie erwartet und trotz der vielen neuen Freizeit – auf die Spiele der Geisterligen gestürzt haben.
Was müssten wir verlieren, wenn es keine vollen Stadien mehr gäbe?
Gumbrecht: Ich sage es eher ungerne – aber gewiss wird oder würde die Menschheit auch ohne Stadionereignisse überleben. Aber wir verlören mit den Massenereignissen – und dazu gehören auch Rockkonzerte oder Papstmessen, die immer häufiger in Stadien stattfinden (oder -fanden) – Momente, in denen wir gemeinsame körperliche Präsenz feiern, also eine Dimension des Lebens, die im Zeitalter der elektronischen Kommunikation (und ihrer Folge einer flachen, banalen Form der Individualität) immer mehr ausgedünnt wird.
Fußball wird durch Künstliche Intelligenz zunehmend digitaler, bei Konzerten filmen mehr Zuschauer mit, als dass sie sich der Musik hingeben. Sehen Sie die Ritualität des Stadionbesuchs zukünftig in Gefahr?
Gumbrecht: Es ist durchaus denkbar, dass nach einem Ende der Pandemie – wenn es denn realistisch ist, sich ein solches „Ende“ vorzustellen – nur noch wenige Leute bereit sind, sich in einem Stadion verschiedenen Ansteckungsgefahren auszusetzen – die es zwar immer schon gegeben hat, die aber nun ins Zentrum des Bewusstseins gerückt sind. Vor dieser Diskontinuität aber war das eigentlich erstaunliche Faktum zu beobachten, dass die Stadien immer voller wurden, obwohl mittlerweile jedes Bundesligaspiel etwa am Fernsehen zu haben war. Und dies trotz der steigenden Preise für Karten. Es hat also wohl so etwas wie eine – vorbewusste – Sehnsucht nach Präsenzritualen gegeben.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm