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Lea Frehse ist in Hamburg aufgewachsen und hat in Bremen, Buenos Aires und London Internationale Politik, Geschichte und Entwicklung studiert. Sie hat in Ramallah vor Al Jazeera den Sturz Mubaraks verfolgt und ist danach zweieinhalb Jahre als freie Journalistin im Nahen Osten geblieben. In den Jahren 2015/16 absolvierte sie eine journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg, anschließend arbeitete sie erst frei, dann in der Lokalredaktion der Süddeutschen Zeitung und wechselte dann zur ZEIT. Ab August 2017 war sie dort als Politikredakteurin tätig, seit Januar 2019 ist sie Nahostkorrespondentin mit Sitz in Beirut.
„Im Libanon existieren zurzeit mehrere Krisen, die alle miteinander zusammenhängen: eine Wirtschaftskrise, eine Politikkrise und eine Identitätskrise, die durch die Explosion im August und Covid-19 deutlich verstärkt wurden und nun klar zum Vorschein gelangen“, erklärt Frehse eingangs.
Als die Journalistin Anfang 2019 das erste Mal für längere Zeit auf libanesischem Boden verbrachte, wurde sie mit viel Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft empfangen, obwohl mit dem Land „offensichtlich etwas nicht stimmte“, berichtet Frehse. Der Libanon sei zwar noch Krisenland gewesen, doch dunkle Innenstädte, unzählige Maseratis neben Bettlern und kaum besuchte High-End-Geschäfte machten sie stutzig. „Nach kurzer Recherche musste ich feststellen, dass die teuren Modegeschäfte unter meiner Wohnung für Geldwäsche genutzt werden und die dunklen Gebäude in der Innenstadt unbewohnte Investments sind“, schildert die Korrespondentin.
Im Spätsommer 2019 änderte sich die Situation dramatisch, als die Währung stark einbrach, was am 17. Oktober eine Revolution zur Folge hatte. Was mit Gewalt startete, endete „in einer Art großem Volksfest, Aufbruchsstimmung machte sich breit“, bemerkt Frehse. Weiter erklärt sie die Hintergründe: „Der libanesische Staat hat seine Wurzeln noch vor der Kolonialzeit. Schon damals kam es zu Treffen zwischen verschiedenen Religionsgruppen, auf deren Basis ein Quotensystem entworfen wurde, in dem jede Gruppe zudem ein Vetorecht hat. Das Präsidentenamt beispielsweise muss permanent von einem Christen ausgeübt werden.“ Das Quotensystem zieht sich durch die Verwaltung – und spätestens jetzt wird deutlich: Für eine tatsächliche Revolution braucht es einen tiefgreifenden Systemwandel.
Das leuchtet auch ein, wenn man die Geschichte des Libanons näher betrachtet. Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkrieges, der von 1970 bis 1995 andauerte, haben die Warlords die Gesellschaft in Machtblöcke aufgeteilt und eine Art Mafiasystem mit Patronen gebildet. Diese Patrone versorgen ihre Wählerschaft mit Jobs, Aufträgen oder Geldern, wofür sie als Gegenleistung Loyalität einfordern. Dadurch existiert nicht ein einziges System, was gestürzt werden kann, sondern viele verschiedene Säulen. Von Problemen zeugen zusätzlich der dysfunktionale Staatsapparat, die hohe Staatsverschuldung und ein hoher Grad an Privatisierung des Staates. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Qualität der öffentlichen Schulen und staatlichen Krankenhäuser zu wünschen übriglassen, hinzu kommen immense Infrastrukturprobleme, eine desaströse Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie eine miserable Müllentsorgung.
Mit der Covid-19-Pandemie hat sich die Lage vor Ort weiter verschärft. Die Arbeitslosigkeit ist nach offiziellen Angaben auf mehr als 30 Prozent gestiegen, die Lebensmittel haben sich um ganze 370 Prozent im Vergleich zum Oktober 2019 verteuert und die Währung hat rund 80 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Die Situation hat sich mittlerweile zu einem humanitären Notfall ausgewachsen. „Die Menschen wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen“, sagt Frehse. „Eine Frau, mit der ich über mehrere Monate in Kontakt stand, hatte auf einmal keinen Ehering mehr an. Als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir, dass sie ihn aus der Not heraus hatte verkaufen müssen.“ Auch die libanesische Regierung, die Anfang 2020 ins Amt gekommen war, verhalte sich wie eine Marionettenregierung, so Frehse. Politisch bewege sich nicht viel im Libanon.
Weiter zugespitzt hat sich die Situation durch die verheerende Explosion im Hafen von Beirut. „Glücklicherweise war ich zum Zeitpunkt der Explosion außer Landes. Als ich kurz danach wieder in den Libanon einreiste, fand ich das gleiche müde Land vor wie zuvor. Doch alles war still, keine Fenster waren mehr vorhanden und überall lagen Scherben herum“, berichtet Frehse und führt weiter aus: „Auch zuvor war den Menschen bewusst, dass sie in einem kaputten Staat leben, aber es gab immerhin sichere Orte. Nach der Explosion waren die Menschen verschwunden, was die Situation überdies verschlechtert hat.“ Doch es dauerte nicht lange, dann war der Wiederaufbau angesagt. Die libanesische Bevölkerung hatte die Sache selbst in die Hand genommen, weil vom Staat nichts zu erwarten war. Nach kollektiver Wut und Aufbruchstimmung einen Monat nach der Explosion machte sich eine depressive Stimmung breit, was in abstruse Szenen mündete: „Einige wollten nur noch aus Plastikbechern, nicht mehr aus Glasflaschen trinken, da sie von den vielen Scherben traumatisiert waren, während andere auf der Straße weinten“, beschreibt Frehse die Szenerie.
Doch wohin geht es mit dem Libanon? „Das wissen die meisten vor Ort auch nicht, sonst würde man jetzt mehr politische Bewegung sehen und spüren“, konstatiert Frehse. „Die Menschen sind wie gelähmt.“ In eineinhalb Jahren steht die nächste Wahl an – was sie bringen wird, ist jedoch ungewiss. Doch zwei Dinge ragen hervor: Die Libanesen nehmen die Sache selbst in die Hand. Als es beispielsweise kein Nutella mehr zu kaufen gab, haben die Menschen einfach selbst eine Nuss-Nougat-Creme produziert – und dieser Prozess findet momentan in vielen Bereichen statt. Andererseits ist die Resignation im Land aktuell besonders stark. Ein junger Mann antwortete Lea Frehse, als sie ihn fragte, wie es ihm gehe, nur: „Das Land ist müde. Meine einzige Hoffnung ist, dass die Patrone sterben und sich endlich etwas ändert.“ Abschließend meint die ZEIT-Nahostkorrespondentin: „Alles, was jetzt gemacht wird, ist warten. Warten, dass sich vor der Wahl Kräfte herausbilden oder Personen herausstechen, auf die man in Zukunft setzen kann.“
Titelbild:
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Bild im Text:
| Lea Riexinger / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm