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Vassili Golod arbeitet seit März 2020 als Autor und Reporter für das ARD-Studio in London. Außerdem kennt man den Journalisten als die Politik-Hälfte des WDR Cosmo-Podcasts „Machiavelli – Rap & Politik“, in dem er sich alle zwei Wochen mit seinem Partner Jan Kawelke und hochkarätigen Gästen aus beiden Bereichen austauscht.
„Als ich im Februar vergangenen Jahres nach London kam, war alles noch normal“, beschreibt Vassili Golod. „Der Brexit stand in den Medien im Vordergrund und ich konnte den damals ältesten Mann der Welt interviewen.“ Doch die weitere Ausbreitung von Covid-19 rückte alle anderen Themen in den Hintergrund. Zunächst unterschätzte die britische Regierung das Virus jedoch. Noch Ende Februar berichtete Premierminister Boris Johnson auf einer Pressekonferenz, er konnte ein Krankenhaus besuchen, dort vielen Menschen die Hände schütteln, die Lage sei unter Kontrolle und bald gemeistert. So zeichnete die Regierung ein entspanntes Bild vom Leben mit dem Virus, was auch den Umgang der Briten mit Corona beeinflusste. Die Auswirkungen jener Politik machten sich schnell bemerkbar. Es kam zu einer raschen Ausbreitung des Virus, was das Gesundheitssystem überlastete – viele Todesopfer waren die Folge.
Aktuell verzeichnet Großbritannien mit mehr als 110.000 die meisten Corona-Todesopfer in Europa. Verschärfen konnte sich die Lage auch, weil der National Health Service (NHS), das britische Gesundheitssystem, seit langer Zeit unterfinanziert war und immer noch ist. Schon vor dem Brexit fehlten dem NHS rund 100.000 Pfleger und Ärzte, angesichts der Pandemie hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Dazu beigetragen haben vor allem die konservativen Tories unter David Cameron und Theresa May, zu denen auch der aktuelle Premierminister zählt. „Boris Johnson warb im vergangenen Wahlkampf gezielt um den NHS und die Gelder, die diesem zugutekommen könnten, wenn der Austritt aus der Europäischen Union erfolgen würde“, erläutert Golod. „Später hat sich allerdings herausgestellt, dass die versprochenen wöchentlichen 350 Millionen Pfund, mit denen er geworben hatte, vollkommen falsch und willkürlich gewesen waren.“
Es war ein zäher Weg mit langwierigen Verhandlungen vom Referendum des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 bis zum Austritt aus der Europäischen Union am 1. Januar 2021. Die EU habe mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Unterhändler Michel Barnier eine klare Linie gefahren, während Boris Johnson vermehrt durch populistische Aussagen auffiel. So entstand der Eindruck, dass Johnson sich wenig damit auseinandersetzte, was ein harter Brexit wirklich für das Land bedeuten würde. Um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, interviewte Vassili Golod unter anderem einen Landwirt, der ihm eröffnete: „Ich habe für den Brexit gestimmt und wollte wieder unabhängiger sein. Jetzt aber merke ich, was das für Auswirkungen auch auf mich hat. Wenn die Lebensmittelstandards der EU nicht mehr gelten, exportieren die Amerikaner ihre Lebensmittel sehr billig zu uns und wir – die eine höhere Qualität haben, aber teurer sind – gehen leer aus und müssen vielleicht dicht machen.“ Das Ausmaß des Brexits und vor allem eines harten Brexits wurde vielen erst im Nachhinein bewusst.
Die Art des Austritts war lange Zeit nicht klar. Das Abkommen, dass an Weihnachten über die Bühne ging, wurde von der Mutation des Coronavirus überschattet. Infolgedessen schloss Frankreich seine Grenzen, kilometerlange Lkw-Schlangen bildeten sich vor Dover. Das Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien habe die beiderseitigen Beziehungen zwar nicht vollkommen zerrissen, die Einigung sei aber fragil, weshalb einige Nachjustierungen unumgänglich seien, meint Golod. Der Export in die Europäische Union beispielsweise gestaltet sich nun viel aufwendiger und bürokratischer. „Wenn ein Lkw ein falsches Dokument mit sich führt, erhält die gesamte Ladung keine Erlaubnis zur Einreise in die EU“, klärt Golod auf. Dies könnte erhebliche wirtschaftliche Folgen mit sich ziehen, die jedoch erst im Verlauf des Jahres sichtbar seien. Auch Importe auf die Insel sollen ab Juli in Portsmouth geprüft werden, wozu eine Anlage errichtet werden soll. Dieser Anlage wurde eine hundertprozentige Finanzierung seitens der Regierung zugesagt, die aktuell allerdings lediglich bereit ist, 66,6 Prozent zu finanzieren. Die Konsequenzen: Die Bauarbeiten haben noch nicht begonnen und die Realisierung des Projekts im geplanten Zeitrahmen ist höchst unwahrscheinlich.
Fest steht, dass Boris Johnsons populistische Art auch zum Brexit beigetragen hat. Golod reflektiert: „Ein Töpfermeister, der seinen Job verloren und zuvor sein ganzes Leben lang ,Labour‘ gewählt hat und nun enttäuscht von seiner Partei war, stimmte beim Referendum für den Austritt und auch 2019 bei der britischen Unterhauswahl für Johnson und die Tories. Dort fühlte er sich gehört und wahrgenommen.“ Der britische Premierminister konnte durch eine einfache Sprache und hoffnungsvolle Zukunftsvisionen den Briten eine, wenn auch utopische Perspektive bieten und dadurch viele Stimmen für sich gewinnen. Auch konnte er mit seiner Impfstrategie punkten. Da Großbritannien in der Covid-19-Pandemie einige Fehler begangen hatte und die Nachverfolgung der Infektionen katastrophal verlief, wurde bei der Impfstoffzulassung schnell reagiert und früh mit dem Impfen begonnen. Profilieren konnte Johnson sich hier gegenüber der Europäischen Union, deren Impfprozess deutlich länger andauerte und andauert.
Wie sich die Impferfolge, die Covid-19-Pandemie und der Brexit auf die künftigen Wahlen und auf die Zukunft Großbritanniens und seine Beziehungen zur EU auswirken, bleibt weiterhin offen.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm