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Am 19. Februar 1957 wird Rainer Wieland in Stuttgart-Bad Cannstatt geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und dem Referendariat in Tübingen, Heidelberg und Stuttgart wird er als Rechtsanwalt tätig und ist bis heute Mitinhaber einer Kanzlei in Stuttgart. Seit 1999 lässt er allerdings jegliche Nebentätigkeit ruhen. Im Jahr 1997 wurde er erstmals Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 2009 ist er dort Vizepräsident und in dieser Rolle aktuell zuständig für die Gebäude und Infrastruktur sowie das Budget des Parlaments. Wieland ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Bundeskanzler Olaf Scholz knüpfte die besagte Zeitenwende nicht an sein subjektives Empfinden der aktuellen Zeit, sondern an ein konkretes politisches Ereignis: Den Beschluss eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden für die Reform der Bundeswehr, nachdem Wladimir Putin seinen Angriffskrieg in der Ukraine begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele auf ein schnelles Ende des Krieges gehofft, so auch Rainer Wieland. Er gesteht zu Beginn des Gespräches mit ZU-Studentin und der stellvertretenden CIP-Vorsitzenden Luca Kuhlmann ein, dass er nicht mit so einem langwierigen Krieg in der Ukraine gerechnet hätte.
Was er jedoch mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass das Verhältnis zwischen Russland und Europa für Jahrzehnte nachhaltig verändert sein wird. Wenn wir also von einer „Zeitenwende“ sprechen, dann in dem Sinne, dass sich „die freie Welt neu vermessen muss“ – und gerade Europa müsse sich in seinen Beziehungen neu aufstellen, so Wieland. Darunter falle auch die Möglichkeit einer „bipolaren Globalisierung“, also einer zunehmend isolierten Entwicklung der Sphäre rund um China und der Sphäre rund um „den Westen“. Für viele ungesehen, fand am Tag zuvor das Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) statt, auf dem Chinas Staatspräsident Xi Jinping die Mitglieder zu mehr Kooperation innerhalb der Organisation aufrief – dabei mit am Tisch: Wladimir Putin.
„Wir unterhalten uns sehr gerne darüber, was in der Welt passiert. Doch Sie werden feststellen, dass wir viel zu wenig über die Welt wissen“, bemerkt Wieland in diesem Zusammenhang. Es gäbe einen neuen Sexappeal für Macher, die mit ihrem schnellen Handeln eine neue Anziehungskraft auf die Menschen ausüben. Gerade die damit einhergehende Ungeduld sorge dafür, dass Regeln übergangen werden. Demokratie dagegen sei langsam, da sie über eben solche Regeln verfüge. Es gäbe immer noch Länder, von denen auch aufgeklärte Menschen bezweifeln, dass sie in 20 oder 30 Jahren zu Demokratien werden.
Ein Land, das seinen Status als Demokratie vom Europäischen Parlament vor kurzem aberkannt bekommen hat, ist Ungarn. Daran anschließend will Kuhlmann von Wieland wissen, ob es zu einem Zerfall der Demokratie in den eigenen Reihen komme, da auch die Europakritik innerhalb der EU weiter zunehme. Wieland verweist in seiner Antwort auf Artikel 7 des EU-Vertrages – die sogenannte „Suspendierung der EU-Mitgliedschaft“ – und sagt: „Eine Europäische Union ohne Ungarn muss man sich vorstellen können.“
Dabei sieht er gerade viele Parallelen zu der Situation, in der sich die Demokraten in den USA vor den Präsidentschaftswahlen 2020 in Bezug auf das Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump befanden. Wenn die EU das Suspendierungsverfahren jetzt nicht anstoße, würde sie sich unglaubwürdig machen; zugleich bestehe die Gefahr, dass dieses Verfahren nicht erfolgreich sein wird, womit sich die EU ebenfalls unglaubwürdig machen würde. Diese Gefahr besteht für Wieland sehr wohl, da er Artikel 7 „in der aktuellen Situation für nicht zielführend“ hält. Aufgrund dessen ist für Wieland „offenkundig, dass wir Vertragsveränderungen brauchen“. Jedoch würde aktuell niemand das Risiko eingehen, solch tiefgreifende Veränderungen ernsthaft anzugehen – denn: „Eine Vertragsänderung in Europa bedeutet Einstimmigkeit, heißt: 27 heben die Hand, 27 unterschreiben, 27 gehen zurück in ihre Heimatländer und rechtfertigen sich“, so Wieland.
Die Gefahr des Scheiterns sei damit sehr hoch. Doch diese Gefahr mit einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ zu minimieren, wie es der französische Präsident Emanuel Macron zuletzt vorgeschlagen hatte, hält Wieland für keine gute Lösung. Stattdessen bräuchte die EU die Kraft, einige einheitliche Veränderungen anzustoßen. Es gäbe aktuell Staaten innerhalb Europas, die nur noch auf dem Papier über ihre Souveränität verfügten, aber nicht mehr in Realität. Die EU müsse diese Staaten dazu bewegen, ihre Souveränität auch auf dem Papier aufzugeben, um sie in eine gemeinsame europäische Souveränität zu überführen.
Dass der Vorschlag eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ dabei ausgerechnet von französischer Seite kommt, wundert Wieland nicht. Denn der Gegenentwurf einer gemeinsamen europäischen Souveränität würde auch eine gemeinsame europäische Verteidigung bedeuten. „Die Franzosen haben da den weitesten Weg zu gehen“, bekundet Wieland. Denn Frankreich ist als einzige Nation innerhalb der EU, die im Besitz von Atomwaffen ist, einen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat und über eine Präsidialarmee verfügt. „Frankreich müsste all das für eine gemeinsame europäische Verteidigung aufgeben“, konstatiert Wieland.
Anschließend wurde das anwesende Publikum angehalten, ihre Fragen an Wieland zu richten. Eine dieser Wortmeldungen bezweifelt, ob die von Wieland kurz zuvor angesprochene „bipolare Globalisierung“ wirklich möglich sei, da die Kompetenzen der einzelnen Sphären aktuell noch viel zu stark miteinander verwoben seien. Wieland entgegnet, dass Lieferketten im Allgemeinen sehr brüchig seien und daher auch neu sortiert werden könnten. Schon heute versuchten viele Firmen, ihre Abhängigkeit von China bewusst zu reduzieren, da sie „den Schuss gehört hätten“. Letztendlich gäbe es überall dort, wo es Bedarf für Veränderung gibt, auch einen juristischen Weg, so Wieland. Gleichzeitig bräuchten wir in essenziellen Branchen etablierte „European Players“ – denn: „Wer nicht zukunftsfähig ist, der wird auch nicht gegenwartsfähig bleiben.“ Während die USA konsequent in strukturelle Dinge investiere, verfüge Deutschland beispielsweise noch immer über keine eigene Ratingagentur, stellt Wieland fest.
Eine weitere Gegenfrage wirft ein, dass die Direktinvestitionen von China in Deutschland in den vergangenen Jahren so hoch wie nie zuvor seien. Zudem sei der chinesische Markt für viele deutsche Großkonzerne der größte Absatzmarkt – eine Reduktion der Abhängigkeit von China sei daher Wunschdenken. Wieland entgegnet, dass er in seinem Umfeld bereits merke, dass sich die Firmen Gedanken über eine Abhängigkeitsreduktion machen.
Gleichzeitig fragt er sich aber auch, wie viele Dinge wir als Europäer noch wirklich selbst bestimmen können. „Das Einzige, was uns noch sexy macht, ist unsere Kaufkraft“, sagt Wieland dazu. Die Mischung aus hohem Durchschnittsalter, geringer Größe und starker Kaufkraft Europas hält der Vizepräsident des Europäischen Parlaments für gefährlich. Jedoch ist Wieland auch davon überzeugt, dass Europa auf globaler Ebene mitentscheiden kann, wenn wir uns darüber einig werden, was wir wollen – doch da habe er so seine Zweifel. Wenn es uns aber gelänge, einen einheitlichen europäischen Standard zu erreichen, dann könnten wir diesen auch als Weltstandard etablieren.
Eine reine moralische Überlegenheit reiche dafür allerdings nicht aus: „Dazu brauchen wir mehr Interessenpolitik und weniger Welterlösungsfantasien“, mahnt Wieland. Genauso brauche es aber auch eine proaktivere, positivere Stimmung in der Bevölkerung, die einen solchen Weg mitgehen würde. Gerade der Deutsche sei in diesem Aspekt eine sehr ungünstige Kundschaft, attestiert Wieland in seinem Schlusswort. Er würde sich durch ein tiefes negativistisches Lebensmotto auszeichnen und immer das halb leere Glas sehen. Wielands letzter Satz lautet daher: „Wir könnten ein bisschen positiver rangehen.“
Titelbild:
| Christian Lue / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Lena Reiner / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm