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Carmen Tanner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führungsethik am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität. Sie ist zudem Professorin für Wirtschaftspsychologie am Department of Banking and Finance an der Universität Zürich und Leiterin des Centers for Responsibility in Finance. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem Behavioral Business Ethics, Personal Integrity, Compliance und Integrity Management, Organisationskultur & Leaderhship, Digital Ethics.
Frau Tanner, wenn ich Ihnen jetzt nur Interviewfragen stelle, die Ihnen gefallen, und Sie laden mich im Gegenzug zum Essen ein: Ist das dann Korruption?
Prof. Dr. Carmen Tanner: In der Tat wären wir hier in einem Grenzbereich. Wenn ich Ihnen eine Einladung zu einem Essen in Aussicht stelle, damit Sie mir nur Fragen stellen, die mir gefallen, dann kommt dies einer Bestechung gleich. Und wenn Sie umgekehrt sich auf diesen „Deal“ einlassen, dann ist das ein Fall von Bestechlichkeit. Allerdings fehlt hier der Aspekt des Machtmissbrauchs und der Schaden gegenüber Dritten. Ich kann Sie nicht zwingen, mit mir Essen zu gehen und sich auf den Deal einzulassen. Umgekehrt bin ich auch nicht gezwungen, ein Interview zu geben.
Korruption wird im Allgemeinen definiert als der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen und Vorteil auf Kosten Dritter. Anders wäre der Fall, wenn mehrere Leute sich unbedingt von Ihnen interviewen lassen wollen. Nehmen wir an, es geht um eine Stellenbewerbung. Um zu erreichen, dass ich und nicht andere interviewt werden, biete ich Ihnen ein Essen an. Wenn Sie darauf eingehen, ist dies zum Nachteil der anderen Bewerberinnen und Bewerber.
Können Sie Korruption einmal mit Blick auf die Gesamtwirtschaft definieren? Was ist daran so gefährlich?
Tanner: Ob Bestechung und Bestechlichkeit in der Wirtschaft, Politik oder im Gesundheitswesen: Durch Korruption werden allein in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe verursacht. Beispiele von Korruption sind illegale Preisabsprachen, Käuflichkeit durch Schmiergelder, Lobbyismus, Erpressung etc. Nicht nur fließt viel Geld in die Bestechung; werden Verstöße gegen Antikorruptionsstandards aufgedeckt, so kann dies für die betroffenen Organisationen zu schwerwiegenden rechtlichen und finanziellen Konsequenzen führen. Aber Korruption kann nicht nur mit hohen materiellen Kosten einhergehen zum Schaden der Allgemeinheit, sondern auch mit immateriellen. Das Vertrauen in die Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit oder die Demokratie wird untergraben.
Es scheint so, als lägen die vergangenen großen Korruptionsskandale schon eine Weile zurück. Ist Korruption in der deutschen Wirtschaft überhaupt noch ein Thema?
Tanner: Tatsächlich liegt Deutschland gemäß dem „Corruption Perpections Index“ von Transparency International in Sachen Korruption im unteren Feld. Nichtsdestotrotz besteht immer noch viel Handlungsbedarf. Zum Beispiel mussten im Jahr 2020 unter anderem der europäische Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus circa 4 Milliarden oder die schweizerische Novartis rund 1,3 Milliarden an Strafen für Korruption bezahlen. Trotz hoher Strafen scheint die Zahl an Korruptionsverfahren nicht abzureißen.
Unsere Wirtschaftswelt ist heute so vernetzt, wird immer stärker elektronisch überwacht und zusammengehalten. Hat Korruption künftig noch eine Chance?
Tanner: Ein großes Problem besteht darin, dass Korruption oft unsichtbar bleibt. Sowohl diejenigen, die bestechen, als auch diejenigen, die sich bestechen lassen, haben kein Interesse daran, dass ihr Tun aufgedeckt wird und verschleiern deshalb ihr Tun. Deshalb sind solche Aktivitäten häufig nicht leicht identifizierbar – trotz mehr Überwachung, strengerer Verfolgung und Bestrafung von Tätern. Hinzu kommt, dass die Umsetzung von strengeren Regeln und Gesetzen, die Stärkung von Kontrolle und Sanktionen für Unternehmen oft nicht nur kostenintensiv sind, sondern auch negative Reaktionen bei den Mitarbeitenden hervorrufen können.
Gibt es Personen, die stärker dazu neigen, sich bestechen zu lassen oder andere zu bestechen?
Tanner: Hier genau setzen wir mit unserer Forschung an. Da Korruption häufig im Verborgenen passiert, lohnt es im Hinblick auf die Korruptionsbekämpfung – so unsere Idee –, sich auch die Rolle der Individuen näher anzusehen. Tatsächlich lässt sich in der Unternehmenspraxis beobachten, dass in einem Umfeld, in dem Korruption bereits verbreitet ist oder finanzielle Anreize für Korruption vorhanden sind, die einen Mitarbeitenden sich anpassen und ebenfalls korruptes Verhalten zeigen; die anderen Mitarbeitende dagegen scheinen deutlich resistenter gegen Korruption zu sein, auch wenn sie dadurch finanzielle Gewinne verpassen.
Dies wirft eine sowohl für die Forschung als auch die Praxis gleichermaßen höchst relevante Frage auf: Wer ist warum resistenter gegenüber Korruption? Die Ergebnisse unserer Studien zeigen, dass Individuen, die ein hohes Maß an „Moral Commitment“ zeigen – das sind Personen, die ethische Werte internalisiert haben und diese als verbindlich ansehen –, tatsächlich nicht nur deutlich seltener andere bestechen, sondern auch resistenter gegenüber Bestechungsversuchen sind, auch wenn ihnen dadurch finanzielle Gewinne entgehen.
Funktioniert Korruption immer noch wie im Film – mit einem Bündel voll Geld im Umschlag? Oder wie lassen sich Menschen am besten bestechen?
Tanner: Geld ist sicher immer noch das am häufigsten verwendete Tauschmittel. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: wertvolle Geschenke, Eintrittskarten zu bedeutenden Veranstaltungen, Überlassen der Jacht oder der Ferienwohnung etc.
Sie setzen häufig auf Laborexperimente, um mehr über Korruption herauszufinden. Wie gehen Sie dabei vor?
Tanner: Ja, wir arbeiten mit experimentellen Designs, denn nur so lassen sich zugrundeliegende kausale Zusammenhänge untersuchen. Wir gehen hierbei normalerweise zweistufig vor. In einem ersten Schritt erfassen wir bei den Teilnehmenden anhand eines Fragebogens neben demografischen Informationen auch deren Persönlichkeitseigenschaften und Werthaltungen.
Einige Wochen später nehmen dieselben Teilnehmenden an einem vollständig anonymisierten „Spiel“ bei uns an der Universität teil. Nach dem Zufallsprinzip werden die Teilnehmenden entweder der Rolle des potenziellen Bestechungsgebers („Bürger“), des potenziellen Bestechungsempfängers („Beamter“) oder einer unabhängigen Person, die durch die Bestechung benachteiligt wird („anderes Mitglied der Gesellschaft“), zugewiesen. In diesem Spiel können die „Bürger“ den „Beamten“ Bestechungsgeld anbieten und die Beamten können dies annehmen oder ablehnen. Eine „erfolgreiche“ Bestechung führt zu einer höheren finanziellen Vergütung für die Teilnehmenden in der Rolle des Bürgers oder Beamten und reduziert gleichzeitig die Vergütung eines unbeteiligten Dritten. Auf diese Weise können wir die Funktion von individuellen Werten separat für den Bestechungsgeber und Bestechungsempfänger eruieren.
Ist es nicht schwierig, Phänomene wie Korruption experimentell zu erforschen. Bestimmte, nicht-korrupte Handlungen sind schließlich sozial erwünscht, also würde ich mir doch Mühe geben, kein Fehlverhalten zu zeigen. Oder?
Tanner: Im Gegenteil, im Experiment gelingt meines Erachtens die Untersuchung von Korruption am besten. Denn dort simulieren wir die Strukturen von Alltagssituationen und „beobachten“ dann, wie sich Personen verhalten. Das ist natürlich viel besser als Betroffene zu fragen, ob sie korrupt sind oder nicht. Das wird in der Forschung zwar häufig gemacht, aber dann hat man wirklich das Problem sozial erwünschten Verhaltens. Bei uns erfolgt auch alles anonymisiert und wir setzen finanzielle Anreize (echtes Geld) für korruptes Verhalten.
Welche „Gegenmittel“ haben sich in Ihren Experimenten als besonders erfolgreich erwiesen, um Korruption vorzubeugen?
Tanner: Unsere Ergebnisse legen nahe, über konventionelle Antikorruptionsstrategien hinaus unbedingt auch mehr Aufmerksamkeit und Gewicht auf die persönlichen Normen und Werthaltungen der Führungskräfte und Mitarbeitenden zu legen. Dies erscheint im Hinblick auf die Personalauslese wichtig, aber auch im Hinblick auf Beförderungen. Darüber hinaus erscheint es auch wichtig, traditionelle Strategien durch die Entwicklung von Programmen zu ergänzen, die darauf abzielen, moralische Werte und Selbstverpflichtung der Belegschaft zu fördern beziehungsweise zu stärken.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Redaktinelle Umsetzung: Florian Gehm