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Dr. Joachim Landkammer studierte in Genua und Turin; seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie; neben politischer Philosophie setzt er sich unter anderem mit Ästhetik und Bildungstheorie auseinander.
Mit etwa 80 Millionen Mitgliedern ist die Kommunistische Partei Chinas (KP) die größte Partei der Welt. Alle fünf Jahre tritt der Parteitag zusammen. Die Führung wechselte das letzte Mal im Jahr 2002. Auf dem 18. Parteitag, der am 8. November 2012 beginnt, soll dies erneut geschehen. Über die Zusammensetzung der momentan neun Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros der KP, das als wichtigstes politisches Gremium Chinas gilt, wird dort neu entschieden.
Im März 2013 soll auf den Wechsel in der Parteiführung ein Regierungswechsel folgen. Der designierte Parteichef Xi Jinping wird dann auch Präsident werden; der momentane Vizepremier Li Keqiang wird voraussichtlich Ministerpräsident Wen Jiabao ablösen.
Dr. Langqiu Zhong ist in China geboren und studierte dort Geophysik, danach lehrte sie an der Southwest Petroleum University in China. Zwischen 1990 und 1993 promovierte sie am Imperial College, London University. Seit 1994 wohnt sie in Deutschland und arbeitet selbstständig, unter anderem als Chinesischlehrerin und Dozentin für Interkulturelle Kommunikation.
Die sogenannte chinesische Kulturrevolution unter Mao Zedong war eines der einschneidensten Ereignisse der Chinesischen Geschichte. Anfangs erhoffte sich die Chinesische Bevölkerung unter der 1966 begonnenen politischen Kampagne die Beseitigung von Missständen in Staat und Gesellschaft. Maos eigentliches Ziel jedoch war die Beseitigung seiner Rivalen in der Kommunistischen Partei (KP) und die Durchsetzung seiner politischen Ziele – allen voran der ständigen Aufrechterhaltung der Revolution. Im Laufe von zehn Jahren zerstörte und ersetzte Mao weite Teile der alten Kader der KP.
Die Kulturrevolution führte vor allem zu einer Radikalisierung des politischen Kampfes zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. In den Universitäten gab es mehr als zehn Jahre keinen regulären Betrieb, die Kultureinrichtungen kamen zu großen Teilen zum Erliegen. Nach einem erstmaligen offiziellen Ende der Kulturrevolution im Jahr 1969 setzte die so genannte Viererbande unter der Führung von Maos Ehefrau Jiang Qing dessen Prinzipien auch nach seiner Amtsenthebung weitgehend fort. Die blutige Kampagne endete erst mit Maos Tod im Jahr 1976.
Deng Xiaoping, den Mao zu Beginn der Kulturrevolution entmachtet hatte, gelang es nach dessen Tod, die Führung in China zu übernehmen. Seiner sogenannten Reform- und Öffnungspolitik ab 1978 verdankt China seinen wirtschaftlichen Aufstieg und die Verbesserung der Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung.
Pekings Propagandamaschine läuft auf Hochtouren: Die Chinesische Parteispitze inszeniert ihren Wechsel. Am 8. November 2012 beginnt der 18. Parteitag. In dessen Verlauf werden der chinesische Staats- und Parteichef Hu Jintao und sein Premier Wen Jiabao neben ihren Nachfolgern Xi Jinping und Li Keqiang, die bereits seit fünf Jahren feststehen, auch die sieben weiteren neuen und bisher geheim gehaltenen Mitglieder des „ständigen Ausschusses des Politbüros“ in einem minutiös durchgeplanten Staatstheater verkünden. Für die kommenden zehn Jahre werden diese Männer über 1,3 Milliarden Chinesen und eine der mächtigsten Volkswirtschaften der Welt entscheiden. China soll laut einer Studie von PriceWaterhouseCooper aus dem letzten Jahr schon 2020 zu den Staaten gehören, die die etablierten Wirtschaftsmächte ablösen. Ohne Demokratie.
Nur kurz nach den Präsidentschaftswahlen in den USA wechselt also auch eine zweite Weltmacht ihre Führung. Und diesmal erreicht den Westen aus Peking im Vorfeld das Bild eines erbitterten Machtkampfs; plötzlich wirkt die chinesische Politik personenabhängig wie nie. Zuerst wurde über die Ermordung eines britischen Beraters durch die Gattin des Spitzenpolitikers Bo Xilais berichtet. Hier witterte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine „KP-interne Intrige“, die „nun zum größten Skandal der jüngeren chinesischen Geschichte“ werde. Dann kam die Meldung über den tödlichen Ferrari-Unfall des Sohns des Sekretariatsleiters des Zentralkomitees Ling Jihua. Dieser wurde daraufhin entlassen. Sofort fühlte sich ZEIT online zu Spekulationen darüber veranlasst, ob es dem scheidenden Staats- und Parteichef Hu nicht gelinge, seine Protegés in hohen Posten zu verankern. Und als kürzlich auch noch der Skandal um die Anhäufung riesiger Summen durch die Familien des aktuellen Premiers Wen Jiabao und des designierten Staats- und Parteichefs Xi Jinping aufkam, gelangte die Süddeutsche Zeitung zu dem Schluss: „Der Kampf gegen die Korruption ist mit diesem System nicht zu gewinnen“. In westlicher Perspektive erscheinen all diese Nachrichten wie Erdbeben, die die Stabilität und vielbeschworene „Harmonie“ der Kommunistische Partei Chinas in ihren Grundfesten erschüttern.
Doch das Spektakel in China könnte vielmehr medial inszeniert als politisch dramatisch sein. Das sagt Kulturtheoretiker Dr. Joachim Landkammer vom Lehrstuhl für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität (ZU). Ein Führungswechsel eignet sich laut Landkammer wie kaum ein anderes politisches Thema zur übersteigerten Darstellung: Endlich wieder Personaldebatten, endlich wieder potentielle Intrigen und Skandale! Gerade in autoritären Staaten erwarte man, dass der Austausch von Führungspersonen dramatisch und radikal ablaufe: „Der demokratische Westen rühmt sich ja unter anderem, dass er Probleme wie Elitenaustausch, Führungsnachfolge und institutionelle Kontinuität trotz personaler Diskontinuität besonders elegant und konfliktfrei lösen kann. Und wir glauben, so etwas könnten andere Staatssysteme nicht“, kommentiert Landkammer.
In Bezug auf China und die dortige Menschenrechts- und Umweltsituation verfolge uns Europäer zusätzlich der Gedanke, es könne so nicht weitergehen. Die Auszeichnungen für Ai Weiwei, Mo Yan und Liao Yiwu , so Landkammer, sind auch Anzeichen für die Hoffnung, im Milliardenstaat sei etwas am Brodeln: „Wir warten ständig auf Signale, dass sich auch von Seiten des Regimes etwas ändert.“ Gerade in den Medien würde das Transformationspotential eines solchen Wechsels aber tendenziell überschätzt – wohl auch, weil die Nachricht „Alles bleibt beim Alten“ keine Meldung sei. Aufgrund von Geschichtsteleologie und Fortschrittsgläubigkeit, sagt Landkammer, erwarteten wir auch gegen besseres Wissen, dass ein Generationswechsel immer auch eine Chance zum Neuanfang darstellt.
China könnte diese Erwartung enttäuschen. Bereits vor fünf Jahren kündigte der ständige Ausschuss des Politbüros die Nachfolger des aktuellen Staats- und Parteichefs und seines Premiers an. Die Chinesische Politik hat nach der 1978 begonnen Öffnungspolitik durch Deng Xiaoping vor allem Kontinuität bewiesen. „Es könnte sein, dass der ‚Machtwechsel‘ für Insider nichts als business as usual ist und bald auch für externe Beobachter keine wirkliche Zäsur darstellen wird“, vermutet Landkammer.
Diese Einschätzung teilt auch Dr. Zhong Langqui, gebürtige Chinesin und Dozentin für interkulturelle Kommunikation. Sie glaubt nicht, dass es einen Machtkampf, wie ihn die westlichen Medien darstellen, tatsächlich gibt. Von kurzfristigen Kampagnen und Skandalen lasse sich die politische Führung kaum beeinflussen. Während die ZEIT beispielsweise Mitte Oktober mit „dramatischer Machtkampf: Die Reformer besiegen die Linken“ getitelt hatte, hält Zhong diese Darstellung für überspitzt. Der Parteispitzenwechsel sei vor allem in der letzten Phase aus Propagandagründen personenbezogen, doch derart unterschiedliche politische Kurse ließen sich von den Funktionären nicht erwarten: „Natürlich gibt es Meinungsunterschiede, aber um überhaupt zur Spitze zu kommen, muss man sehr, sehr konform sein mit den bisherigen Plänen. Wenn jemand stark abweicht, dann kommt er gar nicht so weit; derartige Clans entstehen deshalb nicht.“
Laut Zhong stoße die grundsätzlich kritische und eher negative Darstellung Chinas in den westlichen Medien auch bei vielen im Westen lebenden Chinesen auf Unverständnis: „Hier im Westen stellt man sich immer höher, begegnet uns nie auf Augenhöhe. Was der Westen macht, ist richtig. Und alle sollen mitmachen. Aber in China ist die Geschichte anders, die Kultur anders.“
Im scheinbaren Machtkampf äußerten sich diese westliche Attitüde und die unrealistischen Erwartungen an die neue Führung besonders. Zhong ist fest davon überzeugt, dass in China in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren keine großen demokratischen Reformen anstünden. Aber das Verlangen nach besseren Lebensstandards für Normalbürger und mehr Transparenz sei vorhanden. Der Wandel finde langsam statt: „Als ich Jugendliche war, konnten wir nicht öffentlich und auch nicht unter Freunden offen reden, jetzt geht das – so lange wir nicht die Massen auf die Straßen treiben. Manche Dinge brauchen Zeit. In Richtung Demokratie wird sich das sicher bewegen, aber Schritt für Schritt. Und sicher wird es nicht genau gleich werden, wie es im Westen ist.“
Was im Inneren des Pekinger Regierungskomplexes „Zhongnanhai“ vor sich geht, bleibt – für Chinesen wie für Ausländer – undurchsichtig. Wirklich beurteilen kann niemand, inwieweit kurzfristige Skandale, Intrigen und Enthüllungen die politische Elite weitgehend kalt lassen oder tatsächlich in Unruhe versetzen. Wie beim Spiel Flüsterpost kann man sich bei Meldungen weder darauf verlassen, dass der Vorgänger diese richtig gehört und weitergegeben hat, noch, dass man sie selbst richtig versteht.
Mindestens drei Zerrspiegel beeinflussen die westliche Betrachtung des chinesischen Parteispitzenwechsels auf die eine oder andere Art zwangsläufig: Zum Ersten die Wahrnehmung von Machtwechseln im hiesigen System und der Versuch, die von ihm bekannten Handlungsmotive auf das dortige zu übertragen. Zum Zweiten die vorherrschende Überzeugung, die Demokratie sei die einzige Staatsform, die Regierungen von modernen Staaten tatsächlich legitimiere und die damit verbundene Annahme, ein Staat und sein Elitenwechsel könnten nicht stabil sein, solange er nicht demokratisch ist. Zum Dritten der nahezu vollständig intransparente chinesische Staatsapparat, der Spekulationen, Verzerrungen und Fehlinterpretationen geradezu provoziert.
Im Juli dieses Jahres setzte Peking den Begriff „Wahrheit“ (Zhenshi) für mehrere Tage auf den Index; wer ihn von China aus im Internet suchte, stieß auf eine Fehlermeldung. Diese Reglementierung wirkt bezeichnend für das gesamte System. Doch nur, weil die Wahrheit im Westen freier zugänglich zu sein scheint, heißt das nicht, dass sie tatsächlich greifbarer ist.
Bilder: steffne/photocase.com; World Economic Forum/flickr