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Julian Schellong ist Bachelor-Student der Kommunikations- und Kulturwissenschaften der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zur Zeit studiert er dort im vierten Semester und arbeitet außerdem als studentische Hilfskraft des Lehrstuhls für Medientheorie & Kulturgeschichte bei Dr. Gloria Meynen.
Für die indirekte Kommunikation über Pheromonspuren wurde der Begriff „Stigmergie“ (gr. Stigma: Zeichen, Stich; Ergon: Arbeit) geprägt. Stigmergie bezeichnet eine Interaktion, in der ein Individuum eines Kollektivs seine Umwelt beeinflusst (beim Fall der Ameise beispielsweise, indem sie ihre Pheromonspur hinterlässt), worauf ein anderes Individuum auf diese Veränderung der Umwelt reagiert (Bonabeau et al., 1999 S.14f). Der Entdecker, Pierre-Paul Grassé, definierte Stigmergie 1959 als „phenomen of indirect communication mediated by modification of the environment“.
Quelle: Schellong, J.: Unnormal verteilte Handlungen. Versuch zur Erklärung selbstbeschleunigender sozialer Prozesse durch Schwarmtheorie.
Im Fall der Ameisenkolonie erfolgt positives Feedback beispielsweise durch Verstärkung bei der Ausbeutung einer Nahrungsquelle auf Basis von gelegten und gefolgten Pheromonspuren; negatives Feedback, das positives ausgleicht, kann durch Sättigung, Erschöpfung oder Wettbewerb auftreten. Relevant ist außerdem die Vervielfältigung von Fluktuationen, wie beispielsweise die Verstärkung der Nutzung des zufällig gefundenen kürzesten Weges durch die Pheromonspuren. Als weiteren Mechanismus nennt Bonabeau Toleranz und Anpassungsfähigkeit für gegenseitigen Kontakt – allen voran die Nutzung und Weiterführung von eigenen Aktivitäten und Aktivitäten anderer Individuen.
Quelle: Schellong, J.: Unnormal verteilte Handlungen. Versuch zur Erklärung selbstbeschleunigender sozialer Prozesse durch Schwarmtheorie.
Die Konferenz ZUfo, bei der Schellong seine Untersuchungen zum Thema „Unnormal verteilte Handlungen. Versuch zur Erklärung selbstbeschleunigender sozialer Prozesse durch Schwarmtheorie.“ vorstellte, ist die interdisziplinäre studentische Forschungskonferenz der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Studenten aus allen Fachrichtungen und von verschiedenen Universitäten werden dort zusammengebracht, um über gesellschaftliche Herausforderungen und Phänomene zu diskutieren. Am 22. und 23. März 2013 fand die Veranstaltung zum Schwerpunkt „Pfadabhängigkeiten“ erstmals statt.
Scott Camazine, Jean-Louis Deneubourg, Nigel R. Franks, James Sneyd, Guy Theraulaz, & Eric Bonabeau (2003): Self-organization in Biological Systems.
Eric Bonabeau, Marco Dorigo, Guy Theraulaz (1999): Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems.
Herr Schellong, was versteht man unter Schwarmintelligenz im Tierreich?
Julian Schellong: Man würde, ganz generell gesagt, dann von Schwarmintelligenz sprechen können, wenn ein Zusammenschluss von mehreren Individuen eine Aufgabe lösen kann, die dem Wohle aller nutzt und Eigenschaften aufweist, die nicht mehr aus den Eigenschaften der einzelnen auf der Mikroebene erklärt werden können. Und es muss eine kritische Masse geben, damit eine derartige Makrostruktur entsteht. Wichtig ist dabei, dass es keine lenkende Anführerin gibt, sondern eine Form von Selbstorganisation.
Wie sieht das konkret aus?
Schellong: Im Tierreich findet man dieses Verhalten unter anderem bei Ameisenkolonien und bei Fischschwärmen. In Ameisenkolonien beispielsweise ist es so, dass die Tiere durch das Hinterlassen von Pheromonspuren den Weg zu einer Futterquelle unbewusst markieren. Der kürzeste Weg hat nach kurzer Zeit automatisch die stärksten Geruchsmarkierungen, da die Ameisen, die ihn nutzen, den Pfad in gleicher Zeit öfter passieren als ihre Kollegen, die einen Umweg nehmen. Und weil die Ameisen den stärksten Pheromonspuren folgen, etabliert sich schnell der kürzeste Weg zur Futterquelle als Pfad für die gesamte Kolonie. Man nennt dieses Phänomen Stigmergie.
Und welche Voraussetzungen sind nötig, um dieses Konzept auf den Menschen zu übertragen?
Schellong: Wissenschaftler um den Schwarmintelligenzforscher Bonabeau unterscheiden vier Mechanismen, die gegeben sein müssen, damit man von Schwarmintelligenz sprechen kann: Positives Feedback, Negatives Feedback, die Vervielfältigung von Fluktuationen, sowie Toleranz und Anpassungsfähigkeit für gegenseitigen Kontakt. Wenn man die bei selbstbeschleunigenden Dynamiken in menschlichem Verhalten nachweisen kann, könnte man von Schwarmverhalten sprechen.
Und die Kunst bei der Übertragung auf den Menschen wäre vor allem, diese vier Mechanismen so gesellschaftlich zu isolieren, dass sie erkennbar werden?
Schellong: Ja, im Prinzip ist es so. Wenn man diese Dynamiken durch eine andere Brille beurteilen würde, dann würden andere Muster und Mechanismen sichtbar werden. Und es gibt genug Theorien über soziales Handeln und genug Untersuchungen zu solchen beschleunigenden Dynamiken, zum Beispiel Theorien kollektiven Handelns oder der Rational Choice. Erklären kann man mit der „Schwarmbrille“ nicht mehr oder weniger als durch andere Theoriewerkzeuge. Der Nutzen liegt in der neuen Perspektive und der Möglichkeit zu Prognosen von menschlichem Verhalten, wenn man das Schwarmverhalten erkennt.
Wenn Sie sagen, es wurde dazu schon genug geforscht, was erhoffen Sie sich dann davon, diese neue Perspektive einzunehmen?
Schellong: Mit Schwarmtheorie und besonders mit Stigmergie und dem Vergleich dieser zu Menschen fällt das Phänomen der indirekten Kommunikation unter Abwesenden auf. Und genau diese Form von Kommunikation kann eine selbstbeschleunigende soziale Dynamik - wie steigende/fallende Aktienkurse oder Chartplatzierungen - auslösen. Der Unterschied ist: Massenhafte Aktien(ver)käufe können durch andere Abwesende beobachtet werden, aber die Transaktionen waren als Kommunikation von den Akteuren gar nicht an diese anderen gerichtet. Dort findet also indirekte Kommunikation statt. Man kauft ein Buch oder Album nicht, damit andere es auch kaufen und es in den Charts steigt – aber das passiert eben trotzdem, wenn sich eine kritische Masse findet. Man hinterlässt mit seiner Aktion eine kleine Spur, so wie die Ameisen, die verstärkt werden kann und so zu einer Selbstbeschleunigung führen kann. Ähnliches verhält es sich bei Massenpaniken: Eine bestimmte Gruppe, vielleicht die Leute an den Rändern oder bei den Ausgängen, fängt an in eine bestimmte Richtung zu laufen – und alle anderen folgen, ohne dass die an der Spitze der Masse das beabsichtigt haben.
Durch die Möglichkeit zur Beobachtungen solcher Dynamiken bei Menschen gäbe es ja eigentlich auch die Möglichkeit zur Reflektion des eigenen Verhaltens innerhalb des Schwarms. Was ändert das?
Schellong: Wenn ein Kurs beispielsweise aus Panik sinkt, dann kann man das als Mensch natürlich reflektieren und beobachten "Aha, der Kurs sinkt aufgrund der Panik", aber wenn man die Aktie besitzt, sinkt der Preis dennoch weiter – die Selbstbeobachtung oder Reflektion bringt das Individuum also nicht aus der Bredouille, dass der Prozess weiterläuft. Der Mensch hat trotz Reflexion keine Möglichkeit, die Dynamik als Einzelner zu beeinflussen; es findet weder durch den Kauf der einen CD noch durch den Verkauf einer einzelnen Aktie schon eine Beschleunigung in irgendeine Richtung statt.
Gibt es dann überhaupt Möglichkeiten der Kontrolle von Schwarmverhalten?
Schellong: Wenn man das Verhalten nicht mehr als einzelner Beteiligter als Schwarmverhalten erkennt, sondern von außen, dann könnte das die Situation schon verändern. Es gab dieses Jahr zum Beispiel dieses Unglück in Indien, weil Menschen in Massen zum Ganges geströmt sind; und es gibt immer wieder Massenpaniken bei den Pilgerreisen zur Kaaba. Und bei diesen Prozessen lassen sich die vier oben erklärten Mechanismen erkennen. Dem Einzelnen in dieser Masse würde die Selbstbeobachtung nichts bringen. Doch da könnte man die Schwarmtheorie einsetzen, um aus externer Perspektive die Panik frühzeitig zu erkennen und Vermutungen anzustellen, was der Schwarm als nächstes tut.
In James Bond - Casino Royale zum Beispiel ist eine derartige Kontrollmöglichkeit der Stein des Anstoßes: Der Terrorist Le Chiffre wettet auf den fallenden Aktienkurs der Flugzeugfirma „Skyfleet“. Er will ein brandneues Flugzeug von Skyfleet bei seinem Jungfernflug in die Luft sprengen. Alle würden zuschauen, Angst kriegen und ihre Aktien von Skyfleet verkaufen – eine selbstbeschleunigende Dynamik in Form des rapide fallenden Skyfleet-Aktienkurses würde einsetzen; und Le Chiffre wäre es gelungen, diese Dynamik zu erzeugen. Es bleibt die Frage: Kann man eine Schwankung des Aktienkurses durch Schwarmverhalten als eine Veränderung der Umwelt bezeichnen? Denn nur dann könnte man auch von Stigmergie sprechen.
Können Sie das näher erklären?
Schellong: Es geht darum, in welchem System die Struktur zu verorten ist. Ist ein Aktienindex zum Beispiel innerhalb oder außerhalb des Finanzsystems einzuordnen? Doch die Grenzen des Systems liegen ja nur im Auge des Betrachters beziehungsweise des Systems selbst, diese Unterscheidung ist also schwierig. Da scheitert der Vergleich, da ist ein blinder Fleck.
Heißt das, Sie sind an dem Punkt Ihrer Forschung gescheitert?
Schellong: Es ist eher ein Indiz dafür, dort weiter zu forschen - oder aber, dass diese Herangehensweise dort eben ihren blinden Fleck hat. Der Vergleich ist dort an eine Grenze gestoßen. Trotzdem ließen sich durch die spezifische Perspektive Aussagen über die Dynamiken treffen, die man vorher nicht treffen konnte. Eine weitergehende Forschungsfrage könnte also sein: Was muss ein Akteur, zum Beispiel ein Konzern oder ein Autor, machen, welche Kommunikation muss er starten und weitreichend beobachtbar machen, damit alle anderen folgen und die Dynamik in Gang kommt? Meistens scheitern solche Dynamiken ja nicht an einem Eingreifen von James Bond, sondern an anderen Faktoren.
Bild: photocase/kallejipp (Titel),2006 Danjaq, LLC, United Artists Corporation and Columbia Pictures Industries,Inc. (Text)