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Auf der Suche nach Schnittstellen und möglichen Synergieeffekten aus der Begegnung von Kunst und Wirtschaft ist Michael J. Müller schon eine ganze Weile. Der ausgebildete Schauspieler arbeitete mehrere Jahre am Theater, bevor es ihn für den Master-Studiengang Communication & Cultural Management an die Zeppelin Universität zog. „Wie kann ich mein explizites und implizites Wissen als Schauspieler in anderen Kontexten sinnvoll einsetzen?“, fragte er sich. Aus der Überzeugung heraus, dass künstlerische Praxen wie zum Beispiel praktische Theaterarbeit Organisationen bereichern können und unkonventionelle Blickwinkel öffnen, widmete Michael J. Müller nicht nur seine Studienzeit an der ZU sondern auch seine Master-Arbeit – aufgebaut als klassisches Drama – der Forschung an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Kunst. Wie können Entscheidungen in der Wirtschaft von Handlungsformen in der Kunst profitieren?
Müller versteht sowohl Führungspersonen als auch Künstler als Menschen, die die Welt sinnstiftend gestalten. In der gegenwärtigen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sind Organisationen mit einer immer komplexeren und turbulenteren Umwelt konfrontiert. Führungskräfte, so ein gängiges Narrativ, greifen als „Helden“ konsequent rational, kontrollierend und somit rettend in die Organisation ein. Doch eine wirkliche Kontrolle oder die Möglichkeit von Vorhersehbarkeit sind im komplexen Organisationsalltag eine Illusion. Das „heroische Selbstkonzept“ von Führungspersonen greift heute nicht mehr. Stattdessen ist der Umgang mit Ungewissheit entscheidend. “Hier wird die Figur des Künstlers, der kreativ und emergent arbeitet, als Vergleich herangezogen. Ihm wird attestiert, Lösungen für den Umgang mit Unsicherheit zu haben”, erklärt Müller. Ist der Manager ein Künstler, wie dies schon Vincent Degot 1987 in seinem „Portrait of the Managers as an Artist“ beschrieb?
Müller nimmt diese Metapher ernst und fragt, welche Lerneffekte Führungskräfte aus ästhetischer und künstlerischer Praxis ziehen können. Er führte in seiner Master-Arbeit eine qualitative Studie durch und interviewte Führungskräfteentwickler, Künstler und Personalberater, die künstlerische Formate in Unternehmen entwickeln und durchführen. Im Rahmen dessen erkundet er das Phänomen künstlerischer und ästhetischer Praxis in der Führungskräfteentwicklung in Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Dabei analysiert er, welche die oft auf den ersten Blick nicht erkennbare Funktion dieser Praxen in der Führung sein könnte. Im Mittelpunkt der Forschung steht die Nutzenkonstruktion: „Was soll danach anders sein?”
Überrascht zeigt sich Müller vor allem vom vielseitigen Einsatz künstlerischer Praxen in der Führungskräfteentwicklung. Die Bandbreite reicht vom Clowntheater als Kommunikationstraining bis hin zu groß angelegten kollektiven Prozessen, bei denen Führungspersonen in die Rolle von Künstlern schlüpfen und eigene Kunstwerke schaffen und präsentieren. Häufig malen angehende Führungskräfte Selbstportraits, was zur Selbstreflexion sowie zur Thematisierung der eigenen Führungsrolle anregen soll. Auch Museumsübungen und Schauspiel kommen immer mehr zum Einsatz.
Doch trotz der häufigen Anwendung von künstlerischer und ästhetischer Praxis in Entwicklungsprogrammen fällt Müllers Resümée zunächst ernüchternd aus: „Die Möglichkeiten, die vielleicht in künstlerischen Praxen stecken, werden auf ein für das Unternehmen erträgliches Niveau herunter geschraubt. Die Führungskräfteentwickler sind sich der vielschichtigen Wirkung von Kunst meist nicht bewusst. Da sie keine Kunsthistoriker oder Kulturwissenschaftler sind, fällt es ihnen schwer, das Erfahrene zu beschreiben.“ Stattdessen würde der Nutzen dieser Praxen zweckorientiert vor allem in der Steigerung der eigenen Leistung gesehen. Diese funktionalen Beschreibungen werden der Vielschichtigkeit künstlerischer und ästhetischer Praxis nicht gerecht. Der Nutzen ästhetischer und künstlerischer Praxis liegt gerade in ihrer Zweckfreiheit.
Ästhetik dient nach Kant dazu, Bedeutung in einem ungewissen Wirrwarr zu schaffen. Sie ist eine nicht-rationale Methode der Entscheidung. Künstler sind demnach nicht in erster Linie Menschen, die künstlerische Methoden anwenden, sondern ‘Handlungshermeneutiker‘. Sie interpretieren die Welt und formen daraus ihr Werk. Hierin entsteht nach Müller ein Möglichkeitsraum für ‘postheroisches Management‘: “Die Interpretationsachse, die in der Interaktion mit Kunst entsteht, sensibilisiert und kann eine Übungsfläche bieten. Da Kunst nicht rational zu erklären ist, muss man seine Erlebnisse vielschichtig interpretieren. Schafft man das und kann daraus Handlungen ableiten, wird die eigene Unsicherheit bearbeitbar. Dies lässt sich dann auf den Arbeitsalltag von Führungskräften übertragen.”
Führungskräfte können durch künstlerisch-ästhetische Praxis eine hermeneutische Kompetenz erwerben, durch die es möglich wird, die eigenen Heldenbilder zu dekonstruieren und aus den vielfältigen Interpretationen ihrer Umwelt heraus Handlungsentscheidungen zu treffen.
“Dies ist in der Führung im 21. Jahrhundert ausschlaggebend im Umgang mit Komplexität und Unsicherheit”, bestätigt Dr. Angelica Marte, die Müllers Master-Arbeit betreute. Um diesen Möglichkeitsraum wahrscheinlicher zu machen, schlägt Müller eine Neuausrichtung der Führungskräfteentwicklung vor: “Es könnte der Versuch unternommen werden, Begegnungen zwischen Künstlern und Führungskräften herzustellen, in denen sich Räume gemeinsamer Interpretation öffnen und postheroische Führung erfahrbar wird.”
Titelbild: Abby Lanes / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: Lincolnian / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Zeppelin Universität /Bilder (Archiv-Material)
Liz. / flickr.com (CC BY-NC 2.0)