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Ulrich Schmid ist Professor für die Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Weiterhin beschäftigt er sich dort schwerpunktmäßig mit Nationalismus in Osteuropa und russischen Medientheorien. Schmid studierte zunächst Germanistik, Russistik und politische Wissenschaften an der Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad, dass er dann mit einem Diplom für das Höhere Lehramt an Mittelschulen für Deutsch und Russisch ergänzte. Schmid promovierte 1995 mit einer Arbeit über Fedor Sologub an der Universität in Basel und habilitierte 1999 mit einer Arbeit über russische Autobiographien - ebenfalls in Basel.
Schmid blickt auf umfangreiche Berufserfahrungen zurück und arbeite und lehrte bis dato unter anderem als Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, Assistenzprofessor am Institut für Slavische Sprachen und Literaturen der Universität Bern, Assistenzprofessor am Slavischen Seminar der Universität Basel, Gastforscher an der Universität Oslo und Visiting Fellow an der Harvard University.
„Die Welle des Patriotismus, die Russland heim sucht, ist nicht vom Kreml oktroyiert worden“, sagt Prof. Dr. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St.Gallen. „Diese imperialen Stimmungen hat es vielmehr schon immer in der russischen Kultur gegeben.“ Sie würden vielmehr permanent von den russischen Kulturschaffenden reproduziert und der Kreml mache sich diese patriotische Welle zu nutze.
Die Frage, die Schmidt während seiner Instant Lecture – organisiert von der Hochschulgruppe ReWork - nachgeht, ist mit welchen Mitteln die Idee eines imperialen Russlands am Leben erhalten wird. Der Nährboden dafür ist vor allem die Geschichte Russlands. Sie wird dazu genutzt, dieses Narrativ als Kontinuum zu konstruieren: Der erste russische Staat, die 300-jährige Mongolenherrschaft, das Zarenreich, der russische Bürgerkrieg und das Sowjetunion – sie alle bieten genug Stoff. Besonders die Verherrlichung der Sowjetunion hat laut Schmid allerdings nichts mit dem Wunsch zum Kommunismus zurückzukehren. Ganz im Gegenteil: „Putin hat bereits vor seiner Präsidentschaft einen programmatischen Artikel verfasst, in dem er den Kommunismus als Sackgasse bezeichnet“, sagt Schmid. Putin gehe es vielmehr um das Sowjetimperium als um die Sowjetunion.
Interessant ist, wer alles an der Konstruktion der imperialen Idee mitwirkt. Ein Akteur ist der Kreml selbst. Als Beispiel nennt Schmid die Reaktivierung historisch-militärischer Einheiten. So beschloss Putin 2013 die Wiedereinführung des sogenannten „Semjonowskoje-Leibgarderegiments“, das während des Zarenreichs für den Personenschutz des Zaren zuständig war und als elitär galt. Ein Jahr später gründet das russische Innenministerium eine Spezialeinheit und benennt sie nach Felix Dserchinski, dem Gründer der ersten sowjetischen Geheimpolizei, der besonders brutal gegen Gegner der Revolution vorhing. „Hier sieht man wie der Kreml einerseits zaristische Tradition andererseits früh-sowjetische Tradition zusammenbringt“, sagt Schmid. Somit wird eine Verbindung zu imperialen Vergangenheit geknüpft und am Leben gehalten.
Aber auch viele Kulturschaffende springen auf den Zug des Patriotismus auf, sei es im Kino oder im Fernsehen. „Ich glaube, dass Fernsehserien die Novellen und Romane des 21. Jahrhunderts sind“, sagt Schmid. „Die Selbstaufklärung einer Gesellschaft findet heute sehr stark über das Medium der Serie statt, weil in diesem Format besonders gut psychologische Charaktere und auch Ideologien entwickelt werden können“.
In den vergangenen Jahren sind immer wieder russische Spielfilme oder TV-Serien ausgestrahlt worden, die das Thema des Imperiums und eine Verherrlichung der Geschichte zum Thema haben Ein Beispiel dafür ist die Serie „Leidenschaft nach Tschapajew“ aus dem Jahr 2013. Der Protagonist, Wassili Tschapajew, ist ein bedeutender Heerführer der Roten Armee im Russischen Bürgerkrieg gewesen. In der Serie wird Tschapajew als Ideal einer sowjetischen Karriere gefeiert - er stammt aus ärmlichen Verhältnissen und kämpft gegen die aristokratischen Ausbeuter.
Schmid zeigt an zwei Stellen auf, welche besonderen Elemente entscheidend sind für den Mythos des Imperiums. In einer Szene soll Tschapajew beim Bau einer orthodoxen Kirche helfen. Er hat die Ehre das Kreuz auf die Kuppel zu setzen, stürzt dabei und überlebt wie durch ein Wunder. „Es wird deutlich, dass die Gnade Gottes auf ihm ruht“, sagt Schmid. „Es findet eine spezifische Umdeutung des sowjetischen Heldenmythos statt, in dem man das sowjetische Heldentum bewahrt und noch Orthodoxie draufpackt.“
Neben der Religion spielt die Liebe zum Heimatland eine entscheidende Rolle. In einer weiteren Folge unterhält sich der Protagonist mit einem Aristokraten. Die zwei scheint nichts zu verbinden, doch dann fällt der entscheidende Satz: „Du hast recht, es gibt noch die Heimat, Russland, und die heilige Pflicht jedes Russen ist es, die Heimat zu verteidigen.“ Der Aristokrat und Tschapajew finden in ihrer Heimat die einzige, aber entscheidende Gemeinsamkeit und stoßen darauf an.
„Es spielt keine Rolle, wie groß die Schere zwischen Einflussreichen und Mächtigen und dem einfachen Volk ist“, sagt Schmid. Auch heutzutage laute das russische Narrativ: „Wir haben das heilige Russland gemeinsam, das wir verteidigen müssen.“ Das ist in Schmids Augen einer der wichtigsten diskursiven Tricks, den der Kreml anwendet. Es sei Putin gelungen, Russland in einen vermeintlichen Belagerungszustand zu versetzen. „Es gibt Feinde von außen und von inne, die bekämpft werden müssen.“ Es herrsche die gleiche Paranoia, wie sie im 20.Jahrhundert im Stalinismus geherrscht habe.
Welche geschichtsverzerrende Wirkung Serien haben, wird laut Schmid am Beispiel „Der Sohn des Vaters aller Völker“ deutlich. „Der Vater aller Völker“ war in der Sowjetunion eine Bezeichnung für Stalin, in der Serie geht es um seinen Sohn. Dennoch kommt auch Stalin in einer Nebenrolle vor. Seine Darstellung fällt allerdings alles andere als kritisch aus. „Stalin wir nicht als Tyrann oder Unmensch dargestellt, sondern als strenger, aber gerechter Vater, der sich um das Wohl seiner Söhne sorgt. Mehr noch, der sich um das Wohl der russischen Bevölkerung als Ganzes sorgt.“ Die Nachwirkungen bleiben nicht aus. Bei einer Umfrage aus dem November 2014 gaben 52% der Befragten an, dass Stalin in der Geschichte und Entwicklung Russlands ein positive Rolle gespielt habe.
Aber nicht nur das Fernsehen und Kino erzählen solche Geschichten. An jedem Kiosk könne man ideologische Schundliteratur kaufen. Die Büchlein tragen Titel wie „Der Zorn Neurusslands“, auf dem Cover besiegt ein tapferer russischer Soldat den faschistischen Ukrainer. Es gibt Literatur für Kinder, die die aktuelle imperiale und konservative Kultur vermittelt. Auch die 2005 von der russischen Staatsführung initiierte Jugendorganisation „Nashi“ ist mit dem Ziel gegründet worden, den politischen Kurs der damaligen Regierung zu unterstützen. Je früher die Indoktrination, desto besser - das scheint der Modus der imperialen Idee zu sein.
Aber es ist nicht nur die Unterhaltungsbranche, die mitmacht, sondern auch die intellektuelle Elite des Landes. Der Schriftsteller Michail Jurjew veröffentlichte 2006 einen Science-Fiction-Roman mit dem Titel „Das dritte Imperium – Russland wie es sein soll“. Die fiktive Erzählung spielt im Jahr 2053 und wird aus der Perspektive eines brasilianischen Soziologen erzählt, der nach Russland reist um herauszufinden, wie Russland so einflussreich und mächtig werden konnte. Zu dem Zeitpunkt gibt es nur noch fünf Staaten auf der Welt, Russland ist einer davon. Das russische Imperium reicht von Gibraltar bis Wladiwostok. Russland schafft es, atomare Gegenschläge der USA abzuwehren und annektiert Europa nebenbei. Im Staat herrschen autokratische Verhältnisse: Die Ständegesellschaft ist wieder eingeführt worden, Russisch ist die einzige Sprache, die gesprochen werden darf, die orthodoxe Staatskirche ist erstarkt, das Parlament wurde abgeschafft. „Dieses Buch erinnert an die Idee des Eurasismus“, sagt Schmid. Zentral am Eurasismus ist das Denken in Großräumen und Einflusssphären, so Schmid.
Aber Michail Jurjew ist nicht der einzige, denn laut Schmid wehrt sich die intellektuelle Kultur Russlands gegen den Liberalismus. „Das Statement lautet: Wir wollen nicht die westlichen, liberalen Werte übernehmen. Wir sind eine eigene Zivilisation.“ So schreibt etwa der Schriftsteller Michail Leontjew in seinem Buch „Die Festung Russlands – Abschied vom Liberalismus“ Russland sei ein „Imperium, in dem Imperialität die Harmonisierung aller integralen Teile und Kulturen bezeichnet, eine gewisse Synthese, in der die Russen das Imperium bildende Volk sind, ohne dass die übrigen Völker, die die Zivilisation bilden und erfüllen, nicht existieren können.“ Für Schmid ist klar, dass dadurch ein bestimmtes Bild der russischen Gesellschaft gezeichnet wird. „Die russische imperiale Gesellschaft soll eben nicht auf einen Gesellschaftsvertrag aufgebaut werden, es geht nicht um konstitutionelle Rechte und Pflichten, die hier definiert werden, es geht hier um das organische Ganze, diese integralen Teile und die Harmonisierung.“
Und auch die orthodoxe Kirche macht mit. So gab etwa Putins Beichtvater, Tichon Schewkunow, einen Dokumentarfilm in Auftrag gab. „Der Fall des Imperiums“ zeigt den Niedergang des oströmischen Reichs Byzanz und die Einnahme durch die ungläubigen Moslems. Byzanz wird im Film als Wiege der Zivilisation dargestellt. In einer anderen Serie spielt Fürst Wladimir I die Hauptrolle. Er war derjenige, der den orthodoxen Glauben nach Russland brachte. „Er wird wie ein Held dargestellt: Mit einem roten Cape, was an Superman erinnert, mit einem kantigen Gesicht, was den Helden stalinistischer Ästhetik entspricht. Er ist so etwas wie der Messias, der Russland rettet,“ urteilt Schmid.
Dieses „imperiale, orthodoxe eurasische Mindset“, wie Schmid es nennt, greift der Kreml wieder auf. „Der Begriff der Polittechnologie meint den Versuch und den Mechanismus einer Regierung, die Köpfe der Leute so zu beeinflussen, dass sie im Sinne der Regierung abstimmen und wählen“, sagt Schmid. Besonders der stellvertretende Leiter des Präsidialbüros, Wladislaw Surkow, habe zwischen 2000 und 2011 die ideologischen Fäden in der Hand gehalten. Er habe Putin als jemanden dargestellt, der Russland in einer schwierigen Zeit von Gott persönlich geschickt worden sie.
Die imperiale Idee scheint aufzugehen. In einer in Russland im Jahr 2000 durchgeführten Umfrage hatten die Befragten die Wahl zwischen zwei Szenarien: In einem großen Land zu leben, das von anderen Staaten respektiert und gefürchtet wird oder in einem kleinen, harmlosen Land zu leben, in dem Wohlstand herrscht. 63% der Befragten entschieden sich für das erste Szenario. Als die Umfrage am Ende der zweiten Putins Amtsperiode wiederholt wurde, entschieden sich sogar 78% der Befragten für die erste Variante.
Dennoch macht sich Schmid keine Sorgen. Zum Glück gebe es noch Gegenbewegungen, wie etwa Pussy Riot, die international für Aufregung sorgten, und das Internet. Dort sei genug Raum, um Russlands Selbstaufwertung zu ironisieren und sich von dieser imperialen Idee zu distanzieren. Zudem glaubt Schmid, dass Patriotismus auch nur eine begrenzte Machtressource ist. Für ihn wäre es nicht verwunderlich, wenn es in diesem oder kommendem Jahr zu Unruhen käme und die Ersten diese monströse Idee anzweifeln.
Titelbild: Michaela / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: firdaus omar / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
kitchener.lord / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Saint-Petersburg orthodox theological academy / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann